Ein Traum

… in einem Hafen, aber innerhalb eines Gebäudes, einer Halle, und gegenüber, an Bord eines Schiffes, sitzt ein älterer Matrose mit der kleinen, vielleicht sechsjährigen Stefanie. Er erzählt ihr was. Plötzlich gerät etwas in Bewegung, etwas wird geschehen, und der Matrose herrscht das Kind Stefanie an, wegzuschauen, «Schau nicht hin!» schreit er, und da geht rechts von den beiden eine Tür auf, und aus der Tür tritt Stefanie als Erwachsene, und das Kind Stefanie soll nicht sehen, was die erwachsene Stefanie einmal tun wird und jetzt tut, wenn sie aus der Tür tritt, kurz innehält und dann entschlossen und unzeremoniell ins trübe Wasser des Hafenbeckens springt und verschwindet. Ich erschrecke schlimm, zögere einen Moment, versuche, mir einen umständlichen Wust von Kleidern vom Leib zu reißen, springe dann, als das zu lange dauert, eingewickelt in Tücher selber ins Wasser. Die Tücher breiten sich auf der Oberfläche um mich aus, und das Wasser ist undurchsichtig, Hafenwasser, doch als ich tauche, kann ich alles sehen, weiße Fliesen bedecken den Grund, nur von Stefanie ist nichts zu sehen, das Becken ist leer, sie ist fort, verschwunden, ausgelöscht, unwiederbringlich weg.
Ich begehre auf. Warum hat sie niemand daran gehindert, zu springen? Ich begegne sanften, aber Unverständnis zeigenden Zurechtweisungen. Niemand bemüht sich, mich zu verstehen. Gemeinsame Bekannte halten es für richtig so, Stefanie habe das so gewollt, man müsse das akzeptieren, aufzubegehren sei töricht. Ich weine und weine, untröstlich und von niemandem verstanden. Zuletzt ging es, glaube ich, darum, wenigstens die Geschichte aufzuschreiben. Aber schon das wird von allen als vergebliche Auflehnung, als unvernünftigen Versuch gedeutet, gegen das Unabänderliche anzu—.

112 Meilen (2)

Ein kleines Privatarboretum in einem Garten: Bei der Magnolie denkt man sich noch nichts. Dann aber kommt ein Tulpenbaum in den Blick, der auf einen Amberbaum verweist, hinter dem sich ein Ginko verbirgt. Starr wie Soldaten stehen die Zypressen, aufrecht bis zur Ohnmacht. Fremde Pflanzen, ebenso wenig einheimisch wie die Millionen Fichten in den Mittelgebirgen. Ein Ginko fällt noch auf, die Fichten hält man schon für echten Wald.

Hallimasch, ganze Kolonien davon, rot schimmernde Wülste und Knorpel, als lauschten chthonische Zwerge in die Oberwelt hinaus.

Th. an der U-Bahn-Station Wiener Platz. Breites Grinsen im schmalen Gesicht. Seltsam, so aus der Welt gefallen zu sein. Th.s Arbeitsalltag beginnt, wo wir aus unserem aussteigen, am selben Ort. Ihr kleiner Stadtrucksack, unser Marschgepäck. Ihre Jeans und leichte Jacke, unsere Stiefel, Wollsachen, Hüte, K. und ich stehen vor diesem leichten Grinsen da wie zwei gepanzerte Fahrzeuge.
Keine drei Kilometer von hier habe auch ich mein Büro, das heute leer bleiben wird.

Immer wieder Heimweh. Die Bahnfahrt nach Walberberg, der Gang auf den Villerücken, noch durch unbekanntes Gelände, aber dann die Begegnung mit dem Straßenzug, dem Turm, dem Hohlweg, der Burg vom vergangenen Sonntag, zum Greifen nah die Normalität eines Sonntagnachmittagskaffees am eigenen Tisch zu Hause. Ich sehne mich wie ein Verbannter beim Abschied. Später dann die graue Linie meines Heimatwalds, zwei Stunden höchstens zu Fuß, im Lauftempo halb so weit. Drei Stunden später wären wir zu Hause.

Drei Stunden später sind wir hinter Heimerzheim, unbekannte Wege. In der Ferne immer noch Wegmarken, die auf zu Hause zeigen, der weiße Turm zu Buschhoven, er bleibt sichtbar, bis wir fast angekommen sind am Etappenende, als wäre er uns gefolgt, als könnte auch die Heimat nicht von mir lassen. Ich stelle fest, daß das ein ganz schön großes Gebiet ist, die Heimat. Selbst das, was ich auf eigenen Füßen abgewandert bin, ist von einem Ende zum nächsten mehr, als man an einem Tag schaffen kann.
Morgen die Versuchung von Bahnhöfen.

Wie die Luft hinter einem vier Meter hohen Turm aus Stroh anders ist. Es weht kein Wind, den die Strohwand abhalten könnte. Es ist, als sei die Luft ein Ton, der um ein paar Schwingungen sinkt, wenn man hinter den Strohturm tritt, als werfe der einen Schatten ins Klanglicht.

Dörfer, die keine Dörfer sind. Häuser, die sich zwischen zwei Ortsnamenschildern um eine Straße sammeln, sind kein Dorf. Wir sind müde, wir lechzen nach Kaffee. Straßen sind nicht eßbar; Autos auch nicht. Im Herbstlicht zerfallen die Farben zu Laub.

K. macht ausgiebig Bilder von einer abgestorbenen Eiche. Dutzende Höhlen, Spalten, Klüfte, alle bewohnt. Staub, Holzmehl, trockene Dunkelheiten. Rückseiten von Spinnen. Der Bach macht kein Aufhebens von sich, braunes Wedeln von Steinen. Jogger treffen sich zum Wettkampf. Mehr Heimweh. Hier, auf diesem Weg, habe ich auch schon trainiert. Das paßt alles in einen Samstagmorgen hinein. Unser Weg führt weit darüber hinaus. Und weiter. Und fort.

Wieder aufs Feld, wo der Himmel ausbricht wie eine Epidemie.

Ende des Tages. Ein Wohnwagen, Staub, Moder, Spinnennetze, die in unserem Atem leise wallen. Meine Bereitschaft zum Spartanischen, merke ich, endet beim Schmutz. Ich denke über Schmutz nach. Ein Klumpen Walderde, Schäben, Stroh, welkes Laub, Fichtennadeln, Sand sind kein Schmutz. Hausstaub, Spinnenweben, Moderbrösel, Putzplacken, Mörtelbrocken sind Schmutz.
Ich lege mich auf unser Lager, als wäre mein ganzer Körper spitze Finger. Stocksteif.
Glocken einer fernen Kirche. Stimmen, Gepolter aus dem benachbarten Wohnwagen. In der Tür Eimer, ein Schuppen. Verquollenes Holz, Verfall. Fahrräder unter einer Plane. Ich fröstele. Morgen dreißig Kilometer.
Schlaf zwischen Ekel und dunklem Vergessen. In jedem Wachmoment der Schimmelgeschmack auf der Zunge, und ich muß wieder an das Haus mit den Spinnen denken. K.s schlafender Körper nah, vertraut, sauber, ein behaglicher Trost im Unbehaglichen.
Seltsam beruhigend, als käme darin irgendetwas in Ordnung, was vorübergehend aus dem Lot war: die Liebesgeräusche – das Rumpeln, Iris’ leises Seufzen, später Huberts Lachen – aus dem benachbarten Wohnwagen der Gastgeber. Ich schlafe.

… zuvor / ging sie zur Arbeit

Ach, Liebe. Und nun: Hab ich wieder einen ganz anderen Tag. Laufen bei Tagesanbruch, und als ich zurückkam, da waren die benutzten Tassen und Gläser schon kalt und fremd. Nicht mehr unser Morgen. Ich hätte so gern noch einen ganzen Tag zum Morgen mit Dir. Nicht wieder die Stunden wechseln wie die Schuhe. Nicht wieder Küsse ablegen wie gebrauchte Hemden. Und gemeinsam die Teller waschen, bevor man zusammen das Haus verläßt, auf dem selben Weg.

112 Meilen (1)

Am Rande der Großstadt ankommen, der bekannten, der unbekannten, der oft durchfahrenen.
Linie 260, Linie 4, die Straßenzüge vertraut, aber jetzt wie aus der Froschperspektive, als wäre man geschrumpft, als kröche man auf allen Vieren. Aus dem Feld, aus dem Wald, naß und verdreckt und müde von neun, zehn Stunden Marsch auf die Straße treten und plötzlich als Fremder in die gestern erst verlassene Welt zurückkehren, wie das eigene dunkle Haus bei Nacht, in fremdem Gewand, durch die Terrassentür: In jedem schäbigen Waldgasthof in der Einöde wäre man heimischer als hier, nach einem Tagesmarsch keine Stunde Zugfahrt von der eigenen Wohnung entfernt.

***

Das windschiefe Fachwerkhaus in dem kleinen Weiler unweit der Bundesstraße, mühsam richtet es sich eigens für uns auf dem Ellenbogen auf. Ich denke an die Spinnen im Keller des Hauses, das wir gestern besichtigt haben. Wie die Schatten an der Wand die transparenten Spinnenleiber in die Luft projizierten wie holographische Fresken.

***

Ein Rind, das im Galopp auf uns zustürmt, ein anderes, auch im Galopp, das vor uns flieht. Beide irritiert von unseren Regenponchos. Ein Phänomen, das uns wieder und wieder begegnen wird. Ich summe in Gedanken einen Tanzsatz eines unbekannten Künstlers, den ich neulich im Radio gehört habe. Es wird mein Soundtrack für die nächsten 112 Meilen.

***

Der freundliche Kellner in Unterburg teilt uns bedauernd mit, daß es den ganzen Tag regnen wird. Wir lassen uns, noch halbwegs trocken, unser Lachsfrühstück schmecken. Später die Sengbachtalsperre. Der Wasserspiegel geschwollen wie ein entzündetes Auge. Die Staumauer aufgequollen, als wäre es Pappe. Ingenieure, die irgendwelche Messungen durchführen, kommen uns entgegen, die Jacken noch trocken. Blick in eine Art Wachturm an der Mauer. Durch die halboffene Tür sichtbar ein schmaler, erleuchteter Innenraum, Schreibtisch, Lampe, elektrische Geräte. Das Gemütliche einer solchen Arbeit. Stifte, Papier, Daten. Konzentration. Draußen der Regen. Regen. Irgendwo wird es Kaffee geben, kochendheiß aus einer Thermoskanne.
Das Südufer ist steil, der Weg matschig. Nasse Buchenzweige schlagen uns ins Gesicht, während wir aus dem Tal kriechen. Oben wartet der nächste Schauer.

***

Die Ränder der Feldwege lösen sich auf wie Papier; wenn der Wind auf die Forste drückt, spritz das Wasser heraus wie aus Schwämmen. Kirchtürme ducken sich unter die Spitzdächer, die Schallfenster der Glockenstühle zu Schlitzen geschlossen. Keine Glocken. Die Rinder glotzen. Zwei Kälber saugen am Muttereuter, ihr Hunger unbeeindruckt vom Regen. Wir verlaufen uns. Dicke Tropfen fallen auf das, was von der Karte noch übrig ist.

***

An der Bushaltestelle, wo wir Pause machen, geschützt vor dem Regen, nicht vor dem Wind, rutscht mir der Rucksack von der Bank, und das Brot, gottlob verpackt, fällt in einen Speichelteich, den ein gelangweilter Teenager dort angelegt hat. Schon leicht genervt vom Regen, der durchweichten Karte, der Ungerechtigkeit des Himmels, der uns ausgerechnet am ersten Wandertag Dauerregen beschert, brülle ich «Barbaren!» in den Regen hinaus. Das vielleicht zwölfjährige Kind, das auf den Bus wartet, den wir ignorieren werden (zu stolz; außerdem geht er in die Gegenrichtung), hat auf der Wange eine riesige, schwarze, gerade, vom Mundwinkel bis zur Schläfe reichende Narbe. Aufgemalt, als wäre schon Hällowien oder Karneval. Neben der Speichelpfütze liegt eine abgenagte Kuchenrinde.

***

Eine Birne, ein Stück Schokolade, keine Muße, richtig Pause zu machen. Der Lärm der Straße pustet uns entgegen, man versteht sein eigenes Wort nicht, wir kauen stumm, mit klammen Fingern, auf der harten Schokolade. Schwertransporter, gefolgt von einer Schlange Autos, gefolgt von einem noch schwereren Schwertransporter. Die Reifen spritzen, der Grund bebt. Die aus dem Busfenster betrachtet so ruhige, ja beschauliche Landstraße (im besten Sinne des Wortes eine Landstraße, erweist sich als mörderisch, wenn man selbst ruht und ihr zusieht.

***

Der freundliche Mofafahrer, der gerade in dem Moment nach Hause kommt, wo wir, eine druckfrische, aber bereits veraltete Karte in Händen, vor zugesperrten Zäunen und Haustüren stehen, vor die uns die Karte geführt hat, und nicht weiterwissen. Wir lassen uns den Weg zeigen. Ein Maisfeld. Und noch eine Landstraße. Im letzten Waldstück hört der Regen auf.

***

(In der Unterkunft hört man die Linie 4 hinterm Grundstück vorbeifahren. Ein paarmal bin ich da selbst drin gesessen. Und wußte nicht, daß ich dort vorbeifuhr, wo ich später im Jahr im Bett liegen, und dies schreiben würde.

***

Wir essen zu Opernklängen. Antipasti. Taglerini mit Lachs und rosa Pfeffer. Totmüde ins Bett. Im Bad tropfen die Ponchos.