Einmal habe ich einen alten Indianer photographiert. Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hatte, als ich ihn bat, ein Bild von ihm machen zu dürfen, sein Blick blieb ausdruckslos, vielleicht war er schwerhörig und wollte es nicht zugeben, vielleicht konnte er nur Aymara, möglicherweise hatte er mich aber auch, versunken in seine Welt, geistesabwesend oder gar dement, überhaupt nicht richtig wahrgenommen. Er saß am Straßenrand auf einem Gepäckstück oder einem Sack, und zeigte sich meinem Blick als die Essenz all dessen, was an diesem Land noch echt, noch unvermischt war; er sah aus, als sei er aus einem Kinderbuch herausgestiegen, die Wirklichkeit gewordene Phantasie, als stehe man den eigenen Vortellungen plötzlich leibhaftig gegenüber. Mir war, als habe ich jetzt erst begriffen, was ich in all den Wochen meiner Reise eigentlich gesucht hatte, und es endlich gefunden. Er trug die Kleidung jener Ureinwohner, die sich nie wirklich assimiliert haben, eine bunte Mütze aus Lamawolle, einen Umhang aus demselben Stoff, Sandalen aus Autoreifen; man hätte ihn fast für einen Schauspieler, für ein Ausstellungsstück halten können, doch war sein Äußeres nicht grell, nicht leuchtend genug. Die Wolle war gepflegt, aber sichtlich in langem Gebrauch gewesen. Eine Weile war ich unschlüssig in seiner Nähe herumgelungert, hatte mir ein spanisches Sprüchlein überlegt, unauffällig eine Münze aus dem Portemonnaie geklaubt. Endlich sprang ich über meinen Schatten, trat vor ihn hin und sagte das Sprüchlein auf. Sein Gesicht verschwand hinter lauter ledrigen, von dünnen Bartstoppeln gesprenkelten Runzeln, seine Lippe tropfte in einem weichen Bogen übers Kinn, die schmalen Hände waren hornig und abgearbeitet. Über der harten Nase schwebten zwei trübe, überfilmte Augen, die nicht preisgaben, was, oder ob sie mich gesehen hatten. Ich wiederholte meine Frage, und, da ich glaubte, eine leise Neigung des Kopfes wahrgenommen zu haben, die ich gleich als Zustimmung wertete, richtete ich schnell die Kamera auf ihn, stellte nachlässig scharf und löste aus. Auf dem Bild später schien er direkt in die Kamera zu blicken, doch in jenem Moment war mir, er schaute woandershin, mir über die Schulter oder auf mein Ohr, während sein Mund in einem fort leise zu murmeln schien. Ich zweifelte immer noch, ob er mich überhaupt bemerkt hatte, aber als ich ihm eine Münze in die Hand drückte, nahm er sie ohne zu zögern an, wobei sein Gesicht keinerlei Regung verriet. Ich verabschiedete mich rasch und ging fort mit einem kleinen Triumph in der Brust (was würden meine Freunde zu Hause sagen! Ein echter Indianer!), voller Stolz, daß ich es gewagt und gewonnen hatte, doch auch mit dem nicht ganz so unkomplizierten Gefühl, diesen Menschen mit genau dem Ausstellungsstück verwechselt zu haben, das er nicht war.
Als ich ihm die Münze gab, war ich mir schon fast peinlich reich vorgekommen und hatte mich geschämt, daß ich, ein Jüngelchen, ein ahnungsloser Milchbart aus der Fremde, ihm, dem würdigen Greise, in dessen eigener Heimat ein Almosen gab, und sei es auch aus dem ehrlichen Pflichtgefühl heraus, ihm etwas dafür zurückschenken zu wollen, daß er sich von mir hatte ablichten lassen. Später, längst wieder zu Hause in Europa, beauftragte ich einen Photodienst mit einem Posterabzug vom Dia. Aber bis zum Abholtermin ging mir das Geld aus, und so habe ich das Poster einfach im Laden liegengelassen. Ein paar Monate später, als ich wieder flüssig war, lachte man mich dort nur aus. Das Poster hatten sie längst weggeworfen, das Dia auch. Auf diese Weise habe ich beides, den Abzug und das einzige Original jenes Photos verloren, auf das ich auf einer staubigen Straße in La Paz, Bolivien, so beschämt stolz gewesen bin.
Vielleicht war das leise Kopfneigen des Alten doch keine Zustimmung gewesen.
(Beitrag zum Projekt *txt
Das ist eine Geschichte zum Draufrumkauen. Wissen Sie was? Die hätte ich gern für mein ungeplantes Buchprojekt über nicht gemachte / verlorene / vernichtete Bilder (das vielleicht nie geschrieben wird); da gehört sie dringlich rein.
Oh, einfach weggeworfen? Ohne dich zu mahnen oder zu fragen? Oh nein, aber irgendwie musste das wohl so sein?
Ich mag diese Geschichte mit all ihrem Zwischendenzeilenstehenden.
Danke!
Vielen Dank für diesen Beitrag. Sehr bewegend. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie Sie um diesen Ureinwohner herumgeschlichen sind. Dennoch kann ich nicht nachvollziehen, wieso Sie nicht angemahnt worden ehe beides vernichtet wurde. Sehr merkwürdig.
Vielleicht hat er einen Zauber gesprochen, damit das Bild nicht existiert. Seine Art der Ablehnung unseres Festhaltens. Eine gute Geschichte!