Daß wir über dem großen Jahr nie die kleine Stunde vergessen, aber über der Stunde auch nie das Jahr.
Monat: Dezember 2014
Anfangen
Anfangen. Mit Links eine Handvoll Silben balancieren. Am Schopf den günstigen Augenblick gepackt, und ein Wort aufgezwirbelt, während die Rechte noch den Traum festhält und der Fuß noch in der Nacht taumelt.
Früh das Haus des Schlafs verlassen, in der sternenübersäten Dunkelheit vor den Wörtern. Hinausstapfen in die Öde, mit nichts als dem hohlen Gerappel von Buchstaben in der weiten Tasche. Die Wüste urbar machen mit grünen Verben im Konjunktiv. Tempora gründen und von den Indikativen gleich mehrere. Ein Haus bauen aus fest deklinierten Substantiven, die einander am Fallen hindern, stabil und gut. Eine Gazelle jagen mit einem Netz schneller Adjektive.
Zuletzt am Abend den stahlblauen, weiten Himmel auf die Schultern nehmen und sich überraschen lassen vom Traum wie von einer rätselhaften Metapher.
Hildegard von Bingen, Liber Scivias, Visio Prima
Vidi quasi montem magnum ferreum colorem habentem, et super ipsum quendam tantae claritatis sedentem, ut claritas ipsius visum meum reverberaret, de quo ab utraque parte sui lenis umbra velut ala mirae latitudinis et longitudinis extendebatur. Et ante ipsum ad radicem eiusdem montis quaedam imago undique plena oculis stabat, cuius nullam humanam formam prae ipsis oculis discernere valebam, et ante istam imago alia puerilis aetatis, pallida tunica sed albis calceamentis induta, super cuius caput tanta claritas de eodem super montem ipsum sedente descendit ut faciem eius intueri non possem. Sed ab eodem qui super montem illum sedebat multae viventes scintillae exierunt, quae easdem imagines magna suavitate circumvolabant. In ipso autem monte quasi plurimae fenestellae videbantur, in quibus velut capita hominum quaedam pallida et quaedam alba apparuerunt.
Ich sah gleichsam einen großen Berg in der Farbe von Eisen, und darüber schwebend, so hell, daß ihr Licht meine Augen blendete, eine Erscheinung, zu deren Seiten sich ein leichter Schatten wie Flügel von wundersamer Länge und Breite erstreckte. Und davor, am Fuß des Berges, stand eine Gestalt, die über und über von soviel Augen bedeckt war, daß ich keine menschliche Form darin ausmachen konnte; und vor dieser Gestalt eine weitere, knabenhaften Alters, angetan mit einem bleichen Mantel, doch hellweißen Schuhen, über deren Kopf eine solche Helligkeit von jener anderen Erscheinung über dem Berg herabfiel, daß ich ihr Gesicht nicht anschauen konnte. Aber von der Erscheinung über dem Berg gingen viele lebhafte Funken aus, die aufs angenehmste um diese Gestalten herumflogen. Im Berg selbst aber waren zahlreiche Öffnungen wie Fensterchen sichtbar, in denen, die einen bleich, die anderen weiß, gleichsam die Häupter von Menschen auftauchten.
Solstitium
Unmerklich dreht sich das Jahr in den Angeln der uralten Sterne.
Während wir stolpern am Hang, werfen die Steine mit Nacht.
Aequilibrium
Du magst Gleichgewichte.
Beim Kochen legst du den Holzlöffel quer über die Basis des Pfannenstiels, ein Stückchen vor, ein Stückchen zurück, bis das Gewicht von Stiel und Laffe genau austariert ist. Du könntest den Löffel auch aufs Brettchen legen; aber lieber bewegst du dich vorsichtig in der Küche, achtsam, daß nichts fällt, daß alles in Schwebe und Gleichgewicht bleibt.
Deinen Laptop stellst du auf dem wackeligsten Bücherstapel in der Wohnung ab. Tassen stapelst du im Regal akrobatisch übereinander. Nicht um der Gefahr willen, nicht weil das brenzlich ist oder abenteuerlich, sondern, denke ich mir, weil du es schön findest, eine zarte Ordnung in der Welt zu halten. Du magst das Seltene, das Schützenswerte. Du magst auch das Flüchtige; daß alles vergänglich ist, daß Dinge enden, macht dich nicht traurig.
Du magst Gleichgewichte, die empfindlichen, die leicht zu kippenden, die fragilen und die labilen, die, die Behutsamkeit erfordern, daß sie nicht zerstört werden. Die, die trotzdem halten. Man muß nur gut achtgeben, und du gibst acht. Du probierst aus, welche Dinge man aufrecht hinstellen kann. Gläser stellst du gern dicht an die Tischkante, und du hast mir gesagt, ich hätte das einmal korrigiert, in einem unbewußten Automatismus der Sicherheit das Glas mittiger auf den Tisch geschoben. Ich schämte mich ein wenig, und nahm mir fest vor, deine zarten Equilibrien zu erkennen und sie dir immer zu lassen. Neulich war ich es, dem der gläserne Pfannendeckel auf dem Küchenboden zersplittert ist.
Ich mag es, wenn du Dinge im Gleichgewicht magst. Schließlich ist unsere ganze Geschichte nichts anderes als ein zartes, kostbares Equilibrium.
Beitrag zu *.txt
Ich komme nicht zu dir durch. Ich schicke Nachricht um Nachricht hinaus und sammle büschelweise Fehlermeldungen. Ich probiere jede mir bekannte Adresse. Ich habe alle meine eigenen Accounts überprüft. Alles fehlerfrei. Nur an dich will der Server nichts durchstellen. Ich verlege mich aufs An-dich-denken, auf den Sternenhimmel, auf Flaschenpost, die Strömung stimmt diesmal ja.
Post Festum
Solange du hier bist, leben die Dinge durch dich. Wenn du von mir gehst, stirbt, was du daließest, den Tod deiner Ferne. Ein Bausch Haare im Waschbecken, flauschig und kühl, wie ein geplündertes Nest Träume; ein Fleck auf dem Laken, kartierte Küstenlinien einer versunkenen Insel; eine Lippenspur, die das Glas wieder vergessen hat; ein klammes Handtuch, kühl und sandig wie eine Erdscholle. Während ich den verklungenen Schritten lausche, deren Stille immer noch anhält, zerfällt leise das Dunkel des geteilten Morgens im frühen Licht. Ich lösche die Lampe, die Kerze; das Spiegellicht deiner Augen geht in Rauch auf. In meinen Händen ruht die letzte Berührung von dir, warm und schlaff wie ein entschlafener Vogel. Ich nehme den Schlüssel in die Hand, mit dem du gestern hier warst. Was gestern so leicht von Hand zu Hand glitt, fühlt sich heute hart an und schwer, heimatlos wie ein Fundstück von der Straße. Ich nehme deine Zahnbürste in den Mund, ich trinke aus deiner Tasse, ich schlüpfe noch einmal in unser Bett. Ich drücke die Nase ins befleckte Laken, aber da ist nichts mehr zu erspüren von dir und mir. So riecht das Fehlen. Ich sehe mich um: Alles liegt im milden Morgenlicht da wie Spezereien der Minoer in Vitrinen aus dickem Glas. Unerreichbar sind die Dinge in ihrer eigenen Zeit zurückgeblieben. Schriftstücke, die sich selbst falsch zitieren. Bis ich das Haus verlasse, ist selbst die Stille nach deinen Schritten verklungen, der letzte Rest Dunkelheit vom Tag heimgesucht. Klaglos erbleichen die Wände, schließt sich der Raum zu einem imaginären Reich, wo unsere Küsse nur zu Gast waren.