Monat: November 2014
Via Novaesiana
Samstag morgen, kurz vor sechs: Ein Schwerlaster hält vor dem Haus und lädt mit Getöse Baukies ab. Ich nehme an, es gibt keinen besseren Tag dafür.
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Ich stehe seufzend auf, und stelle, da der Tag ja nunmal begonnen hat, rote Beete aufs Feuer. Jetzt wärmt der irdene Dunst meine Höhle.
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Wo Baukies abgeladen wird, ist die Betonmischmaschine nicht weit. Als Kind war ich fasziniert von diesem Gerät, ich weiß nicht, ob von der Maschine selbst oder vom herrlichen Klang ihrer Bezeichnung. Die Wände wackeln. Heute sind die Assoziationen andere.
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Die Weide am Gesims von Nachbars Garage hat alle Blätter verloren. Standhaft krallt sie sich am Gemäuer fest und lebt von Luft und Stein. Ich mache die Heizung an und wünsche allen Bäumchen einen friedlichen Winter.
Keine Dohlen
Aber erst als du weg warst, fing ich an zu frieren. Und dann wurde es auch noch dunkel. Die Uhr vom Kirchturm schlug halb. Es war zwischen irgendwelchen zwei Stunden, und der Zug sollte gleich kommen. Die Uhr schlug, du warst schon weg, und ich dachte daran, wie du einmal, vor einer Ewigkeit, hier in St. Gereonshausen noch nicht da warst, und wie da Turmdohlen um die Kirche flogen und sich auf den schweren Zeigern der Uhr niederließen, als wollten sie die Zeit vorantreiben. Oder vielleicht wollten sie die Zeit auch aufhalten. Gestern gab es keine Dohlen. Es gab nur Zeit, die wieder zwischen uns angewachsen war. Und es gab die gemeinsame, eben vergangene Zeit, die nun wieder reichen mußte, auf Vorrat, wie der schwere Atemzug eines Wals. Keine Dohlen. Nur einen Jugendlichen im Kapuzenpulli, der auf seinem Smartphone rumfingerte. Geisterhaftes Leuchten im fremden Gesicht. Keine zwei Häuserecken entfernt räumte wohl gerade eine Bedienung unser Kuchengedeck ab. Unsere Krümel auf der Tischdecke. Zwei Gabeln mit Schokoladenresten. Die Fähre tuckerte ohne uns über den Rhein. Am Turm waren die Zeiger im Dunkel versunken. Einen Moment und Wachtraum lang war alles möglich, hatten die Dohlen heimlich die Zeit wiedergebracht, war wieder Morgen und alles am Anfang. Gleich würden wir losgehen. Gleich würden wir wieder aufgeregt wie Kinder an der Reling der Fähre stehen. Gleich läge der Weg wieder vor uns. Das Wasser aus der Feldflasche schmeckte schwarz. Im Bahnwärterhaus waren alle Fenster dunkel. “Da wohnt ja jemand”, hattest du am Morgen gesagt, oder war ich das.
Sauerteig anno ’93
Wie sich die Zeiten ändern. Dreihundert Bäckereien schließen jedes Jahr in Deutschland. An ihrer Statt sprießen Selbstbedienungs-Aufbackstuben wie Pilze aus dem Boden. Die Jungen wollen den Laden der Eltern nicht übernehmen; und eine Bäckerei, eine echte Bäckerei, neu zu eröffnen, dazu sind heute sechsstellige Investionssummen vonnöten, ein Risiko, das keine Bank eingeht. In der Zeitschrift Chrismon rechnet ein Bäcker vor, um die Rendite von 1978 zu erzielen, müsse ein handwerklich erzeugtes Brötchen heute etwa einen Euro kosten. Es ist klar, daß unter diesen Umständen echte Bäckereien auf Dauer ganz verschwinden werden.
Wie sich die Zeiten ändern. Noch 1993, als man Backshop unbedarft mit „Hinterladen“ übersetzt hätte und die Kette Ditsch die Bahnhofshallen der Republik noch nicht mit dem Pesthauch sauren Kunstkäses schwängern durfte, habe ich in einer Bäckerei frischen Sauerteig bekommen. Ja, Sie lesen richtig. Echten, rohen Teig. Abgefüllt in ein Gefäß, das ich selbst mitgebracht hatte. Das haben sie – halten Sie sich fest – mit in die Backstube genommen und mir, mit einer klebrigen Masse vollgestopft, zurückgebracht, die später im Rucksack den Deckel vom Gefäß hob und höchst vital über sämtliche Ufer gor. Zu der Teigspende, die, glaube ich, nicht einmal etwas kostete, gab’s die Mahnung: „Aber nicht daß Sie jetzt jede Woche hier ankommen, ne?“ Ja, so was ging damals noch. Es gab lange Gesichter und hochgezogene Augenbrauen, aber es ging. Versuchen Sie das heute mal („Sauerwas? Teig? Wir sind ne Bäckerei, junger Mann!“). Barbarische Zeiten waren das. Am Ende war meine Küche über und über mit dem Zeug verklebt, und so viele Brote, wie der Teig hätte liefern können, schaffte ich gar nicht aufzuessen. Es war das erste und letzte Mal, daß ich mit Sauerteig experimentiert habe. Den Bäcker gibt’s übrigens auch nicht mehr. Kein Wunder. Den hat wahrscheinlich das Gesundheitsamt schließen lassen.
Hippies im alten Rom (Sen. ep. I, 5, 1-6)
Daß du dich hartnäckig bemühst und unter Auslassung aller anderen Dinge dieses eine Ziel verfolgst, ein besserer Mensch zu werden – das lobe ich und freue mich darüber, und ich ermuntere dich nicht nur, damit weiterzumachen, ich bitte dich sogar darum. Allerdings möchte ich dich ermahnen, daß du nichts unternimmst, um in deinem Aussehen oder deiner Lebensführung aufzufallen, wie es diejenigen tun, die nicht Fortschritte machen, sondern gesehen werden wollen; ein ungepflegter Körper, unfrisiertes Haupt, vernachlässigter Bart, demonstrativer Haß auf Geld, eine Bettstatt auf dem harten Boden und was für ehrgeizige Ziele eines verkehrten Lebens mehr sind – das alles vermeide! Das Wort Philosophie ist schon alleine verhaßt genug. Was, wenn wir jetzt noch damit begönnen, uns aus den menschlichen Gewohnheiten herauszuhalten? Im Innern mag alles verschieden sein, unser Äußeres aber soll dem Volk gemäß sein. Die Toga braucht nicht zu strahlen, aber sie soll auch nicht schmutzig sein. Wir brauchen kein Silbergeld mit Prägung aus reinem Gold, aber wir wollen es auch nicht für ein Zeichen der Einfachheit halten, jedes Anzeichen von Geldbesitz zu entbehren. Wir wollen danach streben, ein besseres Leben zu leben als die Menge, kein entgegengesetztes: Andernfalls vertreiben wir diejenigen, die wir heilen wollen und entfremden uns ihnen; und wir bewirken damit auch, daß sie am Ende gar nichts an uns nachahmen wollen, aus lauter Angst, sie müßten am Ende noch alles nachahmen. Vor allem andern verspricht die Philosophie Geschmack, Kultur und Gemeinschaft. Von diesem Versprechen wird uns aber unsere Andersartigkeit abtrennen. Laß uns zusehen, daß das, womit wir Bewunderung hervorrufen wollen, nicht lächerlich wird und auf Ablehnung stößt. Es ist doch unser Vorsatz, der Natur gemäß zu leben: Gegen die Natur ist’s jedoch, den eigenen Körper zu quälen, einfache Freuden zu meiden, nach Dreck zu streben und nicht allein einfache, sondern ekelhafte und widerwärtige Speisen zu sich zu nehmen. Ebenso wie es ein Zeichen von Ausschweifung ist, nach Leckereien zu verlangen, ist es ein Zeichen von Schwachsinn, einen Bogen um gewöhnliche und preiswerte Speisen zu machen. Die Philosophie verlangt Bescheidenheit, nicht Bestrafung. Bescheidenheit muß aber nicht ungepflegt sein. Eine solche Lebensweise gefällt mir: Wo das Leben gemischt ist aus sittlich Gutem und ganz normalen Gepflogenheiten. Alle Menschen sollen unsere Lebensweise erahnen, aber wissen sollen sie nichts darüber. „Wie? Sollen wir’s etwa genauso halten wie die anderen? Soll uns denn gar nichts von ihnen unterscheiden?“ Doch! Das meiste: Die Menge soll ruhig unser Leben kennenlernen, wenn sie es näher betrachtet; wer unser Haus betritt, soll eher uns anstaunen als die Ausstattung unseres Haushalts. Groß ist, wer Steinzeug so benutzt wie Silber; und nicht geringer ist, wer Silber so benutzt wie Steinzeug. Nur ein schwacher Geist kann Reichtum nicht ertragen.
[1] Quod pertinaciter studes et omnibus omissis hoc unum agis, ut te meliorem cotidie facias, et probo et gaudeo, nec tantum hortor ut perseveres sed etiam rogo. Illud autem te admoneo, ne eorum more qui non proficere sed conspici cupiunt facias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint; [2] asperum cultum et intonsum caput et neglegentiorem barbam et indictum argento odium et cubile humi positum et quidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita. Satis ipsum nomen philosophiae, etiam si modeste tractetur, invidiosum est: quid si nos hominum consuetudini coeperimus excerpere? Intus omnia dissimilia sint, frons populo nostra conveniat. [3] Non splendeat toga, ne sordeat quidem; non habeamus argentum in quod solidi auri caelatura descenderit, sed non putemus frugalitatis indicium auro argentoque caruisse. Id agamus ut meliorem vitam sequamur quam vulgus, non ut contrariam: alioquin quos emendari volumus fugamus a nobis et avertimus; illud quoque efficimus, ut nihil imitari velint nostri, dum timent ne imitanda sint omnia. [4] Hoc primum philosophia promittit, sensum communem, humanitatem et congregationem; a qua professione dissimilitudo nos separabit. Videamus ne ista per quae admirationem parare volumus ridicula et odiosa sint. Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere: hoc contra naturam est, torquere corpus suum et faciles odisse munditias et squalorem appetere et cibis non tantum vilibus uti sed taetris et horridis. [5] Quemadmodum desiderare delicatas res luxuriae est, ita usitatas et non magno parabiles fugere dementiae. Frugalitatem exigit philosophia, non poenam; potest autem esse non incompta frugalitas. Hic mihi modus placet: temperetur vita inter bonos mores et publicos; suspiciant omnes vitam nostram sed agnoscant. [6] ‘Quid ergo? eadem faciemus quae ceteri? nihil inter nos et illos intererit?’ Plurimum: dissimiles esse nos vulgo sciat qui inspexerit propius; qui domum intraverit nos potius miretur quam supellectilem nostram. Magnus ille est qui fictilibus sic utitur quemadmodum argento, nec ille minor est qui sic argento utitur quemadmodum fictilibus; infirmi animi est pati non posse divitias.
Nah und fern
Liebe, ich fühle dich bei mir;
und ich entbehre dich zugleich.
Du bist da und nicht da. Und
so ist es meistens.
Wenn du ganz da bist, ist der
Moment unvorstellbar, da du
wieder fern sein wirst.
Und wenn du fern bist, ist der
Moment unvorstellbar, in dem
der Moment, da du wieder
fern sein würdest, unvorstellbar war.
6:39
Das erste, was ich beim Wachwerden denke: Ich habe keine Lust. Nach einer kalten Nacht verspricht der Tag sonnig und warm zu werden. Man könnte wandern, ja, müßte man es nicht geradezu? Spazierengehen, wenigstens, auf einer Bank in der Sonne sitzen, zum Fluß gehen, ein Eis essen, den Fuß auf Kastanien setzen. Ins Gebirge fahren. Lange wegbleiben. Draußen schlafen.
Halb sieben, und dieser ganze riesige Tag ist jetzt schon eine einzige Überforderung an Möglichkeiten. Ich habe keine Lust. Ich habe keine Lust, aufzustehen. Ich habe auch keine Lust, liegenzubleiben. Das einzige, wozu ich Lust habe, ist, alles, worauf ich je Lust gehabt habe, bereits geschafft zu haben. Dann müßte ich ich es nicht mehr tun, weder jetzt noch später.