Farben, Licht, das bunte Durcheinander, alles scheint plötzlich wie schlecht abgemalt. Der Hafen, die Mole, der Wein am andern Ufer, die Gesichter, der Sonntagsstaat der Flaneure, die billigen Regenjacken vom Discounter, der Eiswagen, die Infotafeln, alles nur eine Kulisse, hinter der nicht einmal ein Grauen lauert, nur eine schreckliche, unauflösbare, allherrschende Ödnis. Keine Schönheit gibt es, die hier irgendeine Form von Echtheit noch bewirken könnte, bevor es für immer für alles zu spät ist, zu spät auch für eine Flucht. Wohin denn entkommen? Und da ist das alles schon alles, das bunte Treiben, der Wind, die Tauben, die sich vor sich selbst ekeln, ist dies das Echte und Eigentliche des ganzen Lebens, diese entsetzliche, trostlose Traurigkeit dieser billigen, nicht einmal häßlichen Melodien, die sich ins Herz schleichen wie süß schmeckendes Gift. Ich wehre mich, balle die Hände zur Faust. Aber eine Unkraft befällt mich, die Schritte werden müde, das Pflaster ist plötzlich so hart, Llorando se fue, und der Weg so weit, wäre es nicht besser, sich hier auf die Bank zu setzen und der Greis zu werden, der man bereits ist seit der Geburt? Ich sehe die Kinder eine Münze gegen ein Eis tauschen, Faria, faria ho! Wie gespannt sie sind. Wie fraglos überzeugt von allem. Ich bin allein, ich bin ganz und gar allein, faria ho! Niemand deutet mir das, die Blicke sind leer, das Lachen wie aus dem Schlund von Automaten. Ich sitze auf der Bank, das Wasser kräuselt sich schwarz unter den Füßen, nicht einmal der Strom ist noch echt, ich gehe in einer kolorierten Kitschpostkarte herum, und es gibt nichts Schönes mehr auf der Welt, die Welt geht im Kreis wie die Melodie, wie der Arm des Leierkastenmannes, ach, du lieber Augustin, alles ist hin.
Wer erklärt mir diese Traurigkeit? Eine wimmernde Folge nicht einmal trauriger Akkorde, und da ist plötzlich diese Vergeblichkeit in allem und allem. Die Farben erbleichen, die Schatten sperren das Maul auf, die Fahnen drohen, es ist, als fröstele es die Zeit selbst unter einer kalten Brise. Wind treibt die Klänge eines Akkordeons oder Leierkastens über den Platz heran. Dazu wandeln fröhliche Menschen allenthalben, Reiterstandbilder starren vor Stolz, Kinder scharen sich um einen Eiswagen, die eifrige Münze in der warmen Hand. Niemand bemerkt es. Alle sind hohl. Puppen. Marionetten an unsichtbaren Fäden. Oder wie ist es sonst zu erklären, daß niemand das Schreckliche dieser Weisen bemerkt? , Quetschkommode, Leierkasten, Schifferklavier: Wäre die Melodie, die diesem Kasten entströmt, häßlich, verstimmt, falsch, ich würde lachen. Aber die Melodien sind nicht häßlich, das Schlimme ist, sie sind nicht einmal das. Ohne selbst traurig sein zu wollen, verströmen sie unter der Absicht einer billigen guten Laune eine Traurigkeit, für die es keinen Trost gibt. Selbst nicht schön, negieren sie auch alles Schöne, negieren sie alles, was Musik sein kann, daß selbst die Erinnerung an alles, was nur je schön und echt und wahr gewesen ist, im Herzen getötet wird.
Eine Münze klimpert, der Leierkastenmann macht eine Verbeugung, mechanisch auch sie, mechanisch wie der zur Maschine gewordene Kurbelarm, der Münzwerfer bleibt einen Moment stehen, in künstlerischem Entzücken, aus schierer Langeweile, aus Mitleid oder weil er ja schließlich bezahlt hat, er bleibt stehen, hält den Kopf ein wenig schief, nicht den Leierkasten schaut er an, sondern auf das Kind, den kleinen Jungen an seiner Seite. Der steht halb abgewandt, in einer Haltung starrer Abwehr, die Ärmchen erhoben, die Hände so kräftig, so entschieden auf die Ohren gepreßt, daß man die Knöchel weiß hervorschimmern sieht. Eine steile Falte der Mißbilligung und Ungeduld steht ihm auf der Stirne. Der Vater zeigt auf den Leierkasten, spricht, deutet, hält dem Kind eine Münze hin, wirbt und schmeichelt, zeigt wieder auf den Leierkastenmann, schnippst dem Jungen noch den Takt vor. Der aber preßt die Hände noch stärker auf die Ohren und schüttelt energisch den Kopf, ignoriert die Münze, will weg, hat genug, leidet mit jeder Faser seines Körpers.
Hör doch mal hin, ruft da der Vater aus. Mit einer herrischen Geste reißt er dem Jungen beide Hände vom Kopf; und für einen Moment, in dem der ganze Platz zusammenzuzucken scheint, in dem der Kaiser sich mit einem Ruck auf dem Gaul aufrecht setzt, die Tauben aufflattern und die Silberköpfe der Seniorengruppe sich umwenden nach so viel echtem Geräusch; für diesen Moment übertönt der Klagelaut des Knaben selbst noch die Diskantpfeifen des Leierkastens, zerschlägt sein Gebrüll all die Trostlosigkeit entzwei. Erschrocken läßt der Vater das Kind los, wirft schnell noch die Münze in den Hut, bevor er dem Sohn nachläuft und beide im Menschengewimmel verschwinden. Das Wasser gurgelt, die Tauben lassen sich auf dem Haupt des Kaisers nieder, der Arm des Leierkastenmannes kurbelt, hollahi, hollaho, die Melodie ist nicht aus dem Takt.
Monat: September 2014
Aequinox (21.9.2014)
Eifersucht habe ich nicht, ja, gegönnt sei dir jedes Vergnügen.
Doch eine andere Not hält mich und läßt mich nicht los:
Denn, ob du schläfst oder wachst, oder denkst oder liest oder wanderst –
wo du auch gehst und stehst, immer ist bei dir dein Leib.
Ob nun verschwitzt oder frisch, verdreckt oder rein nach dem Bade:
Stets ist, wonach mich verlangt, anfaßbar nah deiner Hand.
Pflegen läßt er sich gern und macht dir beim Pflegen noch Freude –
selbst auf dem stillen Ort hast du den Körper bei dir.
Was du auch tust oder läßt, du tust es mit deinem Körper,
überall dient er dir, überall macht er dir Spaß.
Seist du im Walde allein oder gingst übers wimmelnde Forum,
immer trägst du bei dir, was mich so herrlich entzückt;
noch unters engste Gewühle trägst du die heimliche Blöße,
denn unter Schlüpfer und Hemd bist du doch alleweil nackt.
Nackt bist du auch unterm Linnen, des abends, wenn müd du im Bett liegst.
Wunderbar ruht dann dein Leib, selig im eigenen Duft.
Wenn, wie es manchmal geschieht, du dann selbst mit dir selber zu Spiel kommst,
streichelst du dich und bist gleich selbst die Gestreichelte auch.
Streicheln mag ich dich auch, nicht weniger, streicheln mich lassen,
doch, wie das Leben so geht, sind wir nicht selten getrennt.
Während ich fern von dir bin, darfst du dir jedoch immer nah sein.
Drum, weil du hast, was mir fehlt: muß ich dich neiden dir selbst.
Fern
Später wirst du mir diese Geschichte erzählen, und die Tage werden sich zu erkennen geben als das, was sie waren, während ich sie versäumte. Das Versäumte wird sich zu erkennen geben als Tag, der durch dich aufging und verging. Zeit, die zu sich selbst zurückläuft, um noch einmal Du zu werden und sich in dir um Stunde und Tag, um Tag und Woche zu erneuern, und was jetzt unvorstellbar ist, dieses ferne Du, das den Lauf ferner Tage hervorbrachte, wird gewußt sein; und was gewußt sein wird, jenes nahe Du, das die Stunde des Erzählens hervorbringt, wird unvorstellbar geworden sein als jenes erste ferne, das du jetzt und jetzt und jetzt bist.
Apollinarishütte
Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Premium-Wanderweg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben, und was oben am Weg, was auf der Landstraße sich nähert, vor sich geht, sich wieder entfernt, geht uns nichts an. Wir sitzen umschlossen von Holz und vor uns hängt Wildwuchs vorm Tal.
Wir sind an dem Ort, der uns schon von zwei früheren Malen kennt. Keine Umschweife, kein Essen und Trinken, nicht einmal der Form halber, unser Hunger, er ist ein ganz anderer, unser Durst ein lange, allzu lange nicht gestillter. Die Rucksäcke legen wir ab, wenden uns einander zu. Wir fassen uns bei den Händen, wir küssen uns und nehmen den Faden, der uns den ganzen Weg hierher zitternd verbunden hat, wieder auf wie ein unterbrochenes Gespräch – aus Küssen. Wozu die Lippen und die Zungen nicht alles gut sind, wir entdecken es wieder und wieder neu. In diesem Moment gibt es nichts zu sagen, was mit Sprache besser oder schöner oder poetischer zu sagen wäre, als mit der stummen Phonetik des Speichels.
Ab und zu lassen wir ab voneinander, schauen uns in die Augen, Stirn an Stirn. Schon haben wir die Brillen abgelegt, ist der Umkreis in wolkige Unschärfe gesunken. Ein Knacken, ein Rascheln: Wir lauschen. Waren da nicht Stimmen? Nein. Wir sind allein, allein in einem Kreis Unschärfe, der uns schützt wie eine Zeltplan. Wir wenden uns einander wieder zu.
Es gibt ein Wort von dir, das mich immer in verlegenes Entzücken versetzt. Du schöner Mensch, sagst du dann, und weil ich weiß, du meinst es so, macht es mich noch mehr verlegen. Jetzt zupfst du mir das Hemd aus der Hose, schiebst es mir hoch bis über die Brust und murmelst etwas davon, was du die ganze Zeit schon gewollt habest. Deine Finger sind warm vom Gehen. Im hölzernen, trockenen Schatten der Hütte leuchtet weiß mein Bauch hervor, rund und weich wie der Bauch eines ruhenden Kindes. Die ganze Zeit klingen Hammerschläge aus dem Tal herauf; Hunde bellen, als hätten sie uns gewittert; im Gebüsch zetern Vögel. Wir halten inne, lauschen. Einmal sind wir zwar nicht erwischt, aber heikel überrascht worden. Auch dieses Mal werden wir so eben noch Glück haben.
„Du schöner Mensch!“ sagst du und beugst dein Gesicht über meinen weißen, weichen Kinderbauch. Dein Mund ist noch wärmer als deine Finger.
Und während wir die Zeit vergessen, vergißt uns die Zeit nicht. Sie drängelt nicht, sie bummelt, wartet, läßt die Momente genau ineinanderfallen. Höflich und diskret teilt sie aus von sich, so daß uns genug von ihr bleibt, um aufzuknöpfen, was aufzuknöpfen, um abzustreifen, niederzureißen, was abzustreifen und niederzureißen ist, und während oben gerade der Wagen in den Parkplatz abbiegt, haben wir genug Zeit, um zueinander zu finden, und während oben der Wagen mit knirschenden Kieseln zum Stehen kommt, haben wir uns aneinandergedrängelt, an die Wand der Hütte gelehnt mit Faust und heiserem Atem, und die Zeit schaut genau hin, daß sich nichts überschneide und peinlich überlappe, die Zeit ist schamhaft und meint es gut mit uns, sie ist unsere Verbündete, unsere Komplizin, die wohlmeinende Amme an der Tür, ich habe dich umfaßt und drücke dir Küsse in den Nacken, während oben eine Wagentür zuschlägt, ein Jubellaut sammelt sich in deiner Kehle, während Schritte über den Waldweg herbeikommen, und bis wir zusammenzucken und die Beine unter uns nachgeben, sind sie schon auf den Pfad zur Hütte eingebogen; aber nichts stört uns auf, die Zeit verlangsamt dort den Gang, beschleunigt ihn hier, läßt unserer Lust die Dauer, hemmt drüben die Schritte, die sich erst nähern, dämpft die Stimmen, die erst dann aufklingen dürfen, wenn wir ermattet auf die Bank zurückgesunken und zu Atem gekommen sein werden; erst wenn wir die Augen zueinander aufgeschlagen, erst wenn wir uns geräuspert, Haar und Hemd in Ordnung gebracht haben; erst, wenn wir uns träge, der Wonne nachschmeckend, geküßt haben, erst, wenn niemand uns mehr etwas ansehen würde (es sei denn, er schaute sehr, sehr genau hin): Erst dann hören wir beide die Stimmen, deutlich jetzt und unbezweifelbar, und wie sich die Familie, zwei Erwachsene, ein Kind, vom Wege her im Rücken der Hütte, wie sie sich unserem Versteck nähern und endlich ins Blickfeld stürzen.
Später, da sitzen wir an der Bank im Freien, wird uns das alles wie ein Traum vorkommen. Die Straße ist still. Die Besucher haben sich umgesehen und sind wieder verschwunden. Niemand kommt mehr vorbei, so lange wir noch hier verweilen. Ein Traum. War da überhaupt jemand? Wir blinzeln einander zu, erwachend. Wir küssen uns beklommen, fast scheu. Nachdenklich kosten wir von den Mirabellen.
Die Hütte liegt etwas abseits vom Weg, auf einer dem Tal zugeneigten, von Ahorn und Mirabelle gesäumten, nach Süden offenen Lichtung. Dem Wanderer, der oben am Weg zufällig herunterschaut, zeigt sie die kalte Schulter; auf drei Seiten geschlossen, blickt ihre offene Seite vom Weg fort ins Tal hinunter. Wenn man dort sitzt, kann man sich völlig abgeschieden glauben. Wir küssen uns. Ein Vogel zetert. Im Tal bellen wieder die Hunde.