Knifflig

Man saß also bei Tische im fremden Haus, fremd unter Fremden, der Fremdeste von allen, und rings ging das Gespräch. Halb hörte der Gast mit, wie der Vater der älteren, sechsjährigen Tochter von dem schon vor deren Geburt gestorbenen Hund erzählte, und daß man den am Ende seines Lebens habe einschläfern lassen müssen, so alt und krank sei der gewesen, man habe ihn nicht leiden lassen können.
Rechts und links die lebhaften Stimmen, ein freundliches Gewirr, beschäftigt mit sich selbst, und so ist der Gast, nirgends verwickelt, mit seinen Ohren schweifend und mal hier mal dort ein halbes Gespräch auffangend, vielleicht der einzige gewesen, der die Frage der Sechsjährigen an ihren Vater mitgehört hat.
“Würdest du mich einschläfern lassen, wenn ich ganz krank wäre und leiden müßte?”
Kinder scheinen manchmal ein ausgeprägtes Gespür dafür zu haben, welche Fragen den Erwachsenen Bauchgrimmen bereiten und legen mit wundervoller Unbekümmertheit ihren Finger darauf. Tatsächlich aber sind für Kinder alle Fragen gleich knifflig. Für das Kind ist vielleicht die eine wie die andere Antwort eine richtige, eine gute, eine, mit der es einverstanden ist; in einem bestimmten Alter fragen Kinder ja, nur um überhaupt eine Antwort zu bekommen: Warum ist das Meer blau? Unten am Meeresgrund sitzt ein Trupp Kopffüßler, die malen es von unten blau an. Aha. Und warum gibt es Wolken?
Der Erwachsene aber muß antworten und sich entscheiden, er kennt nur eine richtige Antwort und sehr viele falsche, und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß er später den Eindruck haben wird, nicht die richtige Antwort gewußt zu haben, dem Kind nicht gerecht geworden zu sein, versagt zu haben.
Und wenn Erwachsene selbst fragen, wie oft tun sie es dann mit einer Erwartung oder einer bestimmten Absicht, voller List, voller Angst, voller Mißtrauen, voller Hoffen; wie oft stellen Erwachsene einander mit einer kniffligen Frage auf die Probe. Wie oft erwarten sie eine bestimmte Antwort, um im Falle ihres Ausbleibens beleidigt oder bestürzt zu sein. Wie oft stellt man eine Frage, nur um sich beruhigen und beschwichtigen zu lassen. Die Kleine aber, so fühlte es der Gast, war gerade nicht beunruhigt. In ihrer Frage lag weder Sorge noch Angst, nicht die geringste, weder, ihr Vater könnte im Ernstfall tun, wonach sie gefragt hatte, noch, er könnte es unterlassen. Sie hatte keine Erwartungen an ihn, noch weniger wollte sie ihn, seine Liebe zu ihr vielleicht, testen. Sie wollte es schlicht wissen und war offen für jede mögliche Antwort, ohne Bangheit und ohne Hoffen nach der einen oder der anderen Seite. Sie tat ihre Frage in vollstem, in unerschütterlichem Vertrauen darauf, daß, wie auch immer sie ausfallen würde, die Antwort des Vaters wahr, was immer der Vater in einem solchen Fall unternähme, dann das richtige und beste für sie selbst wäre.
Es war ein Vertrauen, das in seiner letzten Konsequenz, die Entscheidung über das eigene Leben und Sterben einem anderen zu überlassen, auf den unfreiwillig lauschenden Gast geradezu schockierend wirkte. Und ihm wurde plötzlich ganz klar, welche ungeheure Last Kinder ihren Eltern aufbürden, ganz einfach dadurch, daß sie vertrauen. Indem sie fest überzeugt sind, wir wüßten eine Antwort auf alles, wo wir doch selbst ratlos sind, ziehen sie uns in aller Unschuld den Boden unter den Füßen weg.
Am Tisch wogten weiter die Stimmen, während der Gast über den dunklen Hof und die Stiege zum angewiesenen Nachtlager hinaufging. Die Frage des Kindes ließ ihm keine Ruhe, und er dachte, daß niemand einem die Antwort abnehmen könne. Durchs Dachfenster sah man die Sterne blinzeln. Auf der Landstraße heulten die Schwerlaster. Auch die Kleine würde die Frage vielleicht irgendeinmal selbst einem Kind beantworten müssen. Ob sie sich dann an diesen lang vergangenen Abend erinnern würde, da sie ihren Vater dasselbe gefragt hatte? An wen sich wenden, dachte der Gast. Wir sind mit unseren eigenen Fragen ganz allein.