Meeresstraße

Schon in den frühen Morgenstunden setzt es ein, das Meeresrauschen. Es kratzt an den Rändern des Schlafs, es zieht der Nacht die Decke weg, es ist schneller als die Zeit selbst. Swuschsch, swuschsch, kleine, kurze, harte Wellenschläge voller Ungeduld.
Der Wecker ist auf halb sechs gestellt und hat noch nicht geklingelt. Ich wühle den Kopf ins Kissen, taste nach dem letzten Traumzipfel, swuschsch, swuschsch, kein Traum, kein Meer, es ist das Zischen der Fahrzeuge auf der Köln-Bonner Straße, das in meine eigene Straße hineinschwappt, swusch, swusch. Der Wind hat gedreht und trägt den Lärm herauf, Ostwind, seltene Richtung.
Der Wecker schweigt, das Straßenmeer zischt, die Nacht wehrt sich nicht. Wer sich wehrt, bin ich. Ich wehre mich, bis ich nicht mehr schlafen kann. Endlich auch die Stöckelschuhe der Nachbarin im Treppenhaus, schaffe, schaffe, Häusle baue. Wer bremst, verliert. Die Räder müssen rollen. Wo kämen wir sonst hin?
Ich weiß nicht, wo ich hinkäme. Ich will in den Wald und für eine Stunde keine Autos hören, keine Lichter sehen, keine Absichten bemerken müssen. Ein Wald hat kein Ziel, das gefällt mir. Er wächst, wie er kann, und wenn nicht, dann nicht. Er genügt sich selbst, mit allem, was in ihm lebt. Nichts daran ist zu viel oder zu wenig. Zu viel oder zu wenig für den Wald. Das mag ich.
Ein Forstmensch mag das anders sehen. Aber ich bin nur ein Läufer, ich darf mich interesselos freuen. Selbst meine Freude ist dem Wald egal, und das wiederum freut mich noch mehr. Halb sechs, ich stehe auf. Swuschsch, swuuhuschsch! Was seid ihr bloß alle so fleißig, denke ich. Schon in stockfinsterer Nacht am Morgen rütteln, ob nicht etwa schon ein Geldscheinchen herabfalle. Dabei bin ich ja auch fleißig. Aber davon hat niemand was. Die Ebene liegt im Dampf ihrer eigenen Lichter. Eine gewaltige Esse, in der fleißig die Zukunft geschmiedet wird, mit Motoren und Trompeten. Der Nebel dieses vorzeitig wachen Morgens ist taghell erleuchtet. Ich wende mich ab und in den Kreis meiner Stirnlampe hinein. Ein Falterchen strudelt vorbei. Von der Weide ragt das gewaltige Horn eines Hochlandrinds in den Lichtkegel. Gelassen mahlen die Kiefer.
Selbst im Wald noch das Dröhnen naher und ferner Straßen. Es gibt kein Entkommen. Einmal habe ich sie gesehen, die ganzen Fahrzeuge, an einem Wintermorgen, da bin ich ins Feld abgebogen, weil es im Wald zu dunkel war, und drüben, jenseits der Äcker, schob sich die lange Linie der Lichter, weiß in die eine, rot in die andere Richtung, unzählige, als wollten sie die Straße leermachen und es kämen doch immer noch mehr, für jedes rote Licht, das abfährt, ein weißes, das auffährt, eine Sisyphusarbeit, das Dröhnen ohne Unterlaß, und dabei hatte der Tag doch noch gar nicht begonnen, lag hinter mir der Wald in tiefem Schlaf, gab keinen Laut von sich, als lausche auch er. Dabei waren ihm die Lichter so egal wie der Läufer, der auf den Wegen fluchend in die Pfützen trat.

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