Heimat an Flüssen

Später gab es die Schleuse, gab es die Bahnbrücke, gab es Wege allein. Raben zogen im Wasser über die Spiegelungen der Tiefe. Einen Abend gab es, der am Gitterwerk der Eisenbahnbrücke festwuchs. Züge machten die Ferne hörbar. Irgendwann muß die Ferne zum erstenmal ein Geräusch gemacht und gelockt haben. An einem Abend überm Fluß vielleicht, auf einer Fahrt über die Brücke, im Herbst. Die Räder ratterten und verbanden das Hier mit dem Dort. Das muß die Zeit gewesen sein, da die Welt klein wurde, und indem sie schrumpfte, wurde begreifbar, wie groß sie war. Die Dinge wurden unvollständig und verlangten nach etwas, das sie wieder heil machte, sie wieder einfügte in den Zusammenhang der Welt. Was es war, das ihnen fehlte, das hast du erst Jahre und Jahre später verstanden.
Erwachsensein hieß, alleine zu sein an Flüssen. Erwachsensein war, kommen und wieder gehen, von einer Brücke herab auf den Kanal blicken. Einmal löste sich ein Totenvogel aus dem Nebel in den Uferpappeln, das hast du nie mehr vergessen. Die Schreie der Krähe hallten über dem weißgeseiften Wasser. Darüber wolltest du schreiben, aber es gelang dir nicht. Störrisch und mächtig waren die Dinge, Krähe, Nebel, Pappel, aber einzeln waren sie, und wehrten sich gegen Worte. Geschichten hockten an den Wurzeln der Dinge, aber wenn man ihr erstes Wort sprach, um sie zu erzählen, da verflüchtigten sie sich und wurden unerzählbar, wie die Rabenschreie, die der Nebel wegnahm, wenn er sich auflöste überm glitzernden Strom.

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Sommer, der erste Rausch, du hattest eine Flasche Mâcon gekauft, du brietest dir Fleisch und leertest die Flasche allein auf dem Balkon, die Eltern waren in Urlaub, zum ersten Mal warst du nicht mitgefahren. Du warst allein. Erhitzt und begeistert vom Wein, deiner Kühnheit und der Nacht, in der du ganz allein warst, bist du gegen Mitternacht zur Kanalbrücke gegangen, wild verlangend nach Bewegung, Strömung und Bildern. Du fandest einen stillen Strom, die Kette der Laternen ein zittriges Band unter Holunder und Weiden. Ein Fluß im Sommer, zur Nacht, und das Gefühl, am Anfang einer jeglichen Nacht zu stehen. Das Wasser sehr still, nur das Schwanken der Schatten darauf deutete auf sein langsames Strömen; das Dorf wie verlassen; kein Verkehr auf den Straßen, weder nah noch fern. Die Bäume auf dem Schulhof deiner alten Schule vollgesogen mit Laternenlicht.
Die Luft war warm, feucht, voller Gerüche. Du hattest Nacht und Fluß, du hattest Brücke und Lichter, du hattest die Welt und dich selbst für dich allein, und alles in dir drängte danach, Nacht, Fluß, Rausch, ja, dich selbst: zu teilen. Daß da niemand war, der die Welt, der dich mit dir teilen mochte, das machte dir damals Schmerz, einen Schmerz, den die Nacht, die schwimmenden Lichter, die einsame Brücke, den dir diese Stunde nicht erklären konnte, nicht verwandeln, nicht mildern. Statt daß du ruhig werden konntest an einem Augenblick, da Zeit mit Zeiten zu einem ruhenden Spiegel verschmolz, wuchs dir in dieser stillen Stunde nur ein umso größerer Schmerz, eine umso wildere Sehnsucht zu. Die Stunde genügte sich selbst. Sie brauchte dich nicht. Du aber genügtest dir nicht. Oder war es die Stunde mit allem, was sie enthielt, der du nicht genügtest?
Was blieb dir damals, als zu Hause schon halb im betrunkenen Schlaf die Nacht mit dir selbst zu teilen. Jahre später aber ist diese Stunde auf der Kanalbrücke dann noch einmal zu dir zurückgekommen, als du über sie schreiben wolltest. Heil war sie da geworden an der Zeit und am gelebten Leben, heil an der Erzählung, und du begannst zu ahnen, daß dir bei aller Sehnsucht in diesen Jahren das Alleinsein zutiefst gemäß gewesen sein muß, als ordentliche Verfaßtheit deines jungen Lebens.

Meeresstraße

Schon in den frühen Morgenstunden setzt es ein, das Meeresrauschen. Es kratzt an den Rändern des Schlafs, es zieht der Nacht die Decke weg, es ist schneller als die Zeit selbst. Swuschsch, swuschsch, kleine, kurze, harte Wellenschläge voller Ungeduld.
Der Wecker ist auf halb sechs gestellt und hat noch nicht geklingelt. Ich wühle den Kopf ins Kissen, taste nach dem letzten Traumzipfel, swuschsch, swuschsch, kein Traum, kein Meer, es ist das Zischen der Fahrzeuge auf der Köln-Bonner Straße, das in meine eigene Straße hineinschwappt, swusch, swusch. Der Wind hat gedreht und trägt den Lärm herauf, Ostwind, seltene Richtung.
Der Wecker schweigt, das Straßenmeer zischt, die Nacht wehrt sich nicht. Wer sich wehrt, bin ich. Ich wehre mich, bis ich nicht mehr schlafen kann. Endlich auch die Stöckelschuhe der Nachbarin im Treppenhaus, schaffe, schaffe, Häusle baue. Wer bremst, verliert. Die Räder müssen rollen. Wo kämen wir sonst hin?
Ich weiß nicht, wo ich hinkäme. Ich will in den Wald und für eine Stunde keine Autos hören, keine Lichter sehen, keine Absichten bemerken müssen. Ein Wald hat kein Ziel, das gefällt mir. Er wächst, wie er kann, und wenn nicht, dann nicht. Er genügt sich selbst, mit allem, was in ihm lebt. Nichts daran ist zu viel oder zu wenig. Zu viel oder zu wenig für den Wald. Das mag ich.
Ein Forstmensch mag das anders sehen. Aber ich bin nur ein Läufer, ich darf mich interesselos freuen. Selbst meine Freude ist dem Wald egal, und das wiederum freut mich noch mehr. Halb sechs, ich stehe auf. Swuschsch, swuuhuschsch! Was seid ihr bloß alle so fleißig, denke ich. Schon in stockfinsterer Nacht am Morgen rütteln, ob nicht etwa schon ein Geldscheinchen herabfalle. Dabei bin ich ja auch fleißig. Aber davon hat niemand was. Die Ebene liegt im Dampf ihrer eigenen Lichter. Eine gewaltige Esse, in der fleißig die Zukunft geschmiedet wird, mit Motoren und Trompeten. Der Nebel dieses vorzeitig wachen Morgens ist taghell erleuchtet. Ich wende mich ab und in den Kreis meiner Stirnlampe hinein. Ein Falterchen strudelt vorbei. Von der Weide ragt das gewaltige Horn eines Hochlandrinds in den Lichtkegel. Gelassen mahlen die Kiefer.
Selbst im Wald noch das Dröhnen naher und ferner Straßen. Es gibt kein Entkommen. Einmal habe ich sie gesehen, die ganzen Fahrzeuge, an einem Wintermorgen, da bin ich ins Feld abgebogen, weil es im Wald zu dunkel war, und drüben, jenseits der Äcker, schob sich die lange Linie der Lichter, weiß in die eine, rot in die andere Richtung, unzählige, als wollten sie die Straße leermachen und es kämen doch immer noch mehr, für jedes rote Licht, das abfährt, ein weißes, das auffährt, eine Sisyphusarbeit, das Dröhnen ohne Unterlaß, und dabei hatte der Tag doch noch gar nicht begonnen, lag hinter mir der Wald in tiefem Schlaf, gab keinen Laut von sich, als lausche auch er. Dabei waren ihm die Lichter so egal wie der Läufer, der auf den Wegen fluchend in die Pfützen trat.