Karfreitag 2013

Da wollen wir rauf?

Schiffe kommen von Fern und lassen sich Zeit, binden Anfang und Ende eines langen Nachmittags zusammen. Wo die Höhen sich Schicht um hellere Schicht im Dunst verlieren (noch eine Linie und dahinter noch eine, und die letzte ist vielleicht nur noch Ahnung, Täuschung von Licht und Wasserdampf, ein Bogen Land, den der Blick, müde von Weite, in die Wolken hineinträumt), dort strömen Himmel und Fluß zusammen, dort beginnen die Schiffe zu schweben, während sie den Strom mit sich davonziehen.

Da wollen wir rauf. Schwarze Türme, winzig darin eingelassen Spieglungen eines bleichen, fernen Himmels. Vom Strom aus betrachtet, von der Fähre, vom zugigen Wasser, winden sich die Hügel wie die Wendeltreppen von Riesen empor, um die Kehre der Hügelkronen herum und immer noch weiter, in ein von hier unten nicht einmal anzustaunendes Land. Kalt ist es hier unten, eng stehen die Wände des Tals. Weglos und voller Schatten drängeln die Hänge zum Ufer wie riesige Tiere zur Wasserstelle. Eine Uferpromenade mit gestutzten Linden sieht aus, als habe sie Gänsehaut. Eisig schwimmt die Sonne auf Wolkendunst. Aus der Enge der Schatten führt uns eine Trockensteinmauer hinauf, und das Tal bleibt unter uns zurück. Einmal schauen, zweimal blinzeln, siebenmal Luft schöpfen, dann ist die erste Höhe erklommen. Du lachst, wir lachen, wir tanzen den Talschatten auf der Nase herum. Schwach schlägt eine Kirchturmuhr, die Stundenschläge verlieren sich ungezählt zwischen den Bachtälern. Der Strom wird zum Band, die Hänge zum Kinderspiel. Der Tag ist jung, wir haben Zeit, laß uns gehen.

Und dann ist man selbst auf der Wendeltreppe, sind wir zu zwei Riesen geworden; zu zwei im Raum von Land, Burg, Strom und Hängen winzigen Riesen, deren Schatten, hätte das Licht an diesem Tag nur eine Richtung, hinunter gleiten müßten bis auf die Silberfläche des Flusses. Oben. Hügel lehnen sich gegen den Himmel, die Bögen schaben daran entlang. Zum Strom hinunter legen die Täler sich in struppige Falten. Der Weg legt Stufen aus, das Gehen ist mühelos, die Hände warm, die Blicke voller dunstiger Tiefen. Buchten, Blicke und Fahnen: Wie lang der Tag noch ist, wie fern der Abend. Es ist nicht mehr viel Raum von unseren lachenden Stirnen bis zum Himmelsrand, eine Lerche zirpt von dort herab wie von einer Zimmerdecke.

Alles, was man sonst von unten anstaunt: Da liegt es zu Füßen, da sind die Burgen Riesen, denen man auf den Schädel spuckt, die Türme so nah vor dem Fuß, als ließen sie sich mit einem Schubs in den Rhein befördern. Das Tal rumpelt von Güterzügen. Die Straße mit den emsigen Autos und Wohnmobilen darauf sieht lustig aus und mühelos jede Bewegung, jedes Reisen auf ihr. Kühl wäre es da unten an der Mühle, die den Schatten verwirbelt. Die Häuser sind in Würfeln kunterbunt und architektonisch verwegen zu Tal gerutscht, und jetzt sind es die kleinen dunklen Fenster an der Uferpromenade, die den Kopf in den Nacken legen, um zu den Höhen hinaufzustaunen und zu den zwei Wanderern, die ihnen lachend von hoch oben winken.

Einen Ort gibt es, wo die Felsen niedersteigen, um dem Raunen eines unsichtbaren Bachs zu lauschen. Nur ein Zipfel des großen Stroms ist von hier zu sehen, die Güterzüge sind stumm. Dort läßt sich gut in der Höhe Rast machen. Steine formen sich zum Sitz, der Wind macht höflich Platz und duckt sich wispernd unters Vorjahreslaub der Eichen. Dort schweigt er. Die Beine schlafen ein, man muß die Plätze wechseln. Die Jacken rascheln. Das Licht hält den Atem an. Unterm Finger das Moos, warm wie ein Muskel. Sich rücklings umarmen lassen vom Fels. Herzschläge lang Träume von Sommer und Lilien. Gedanken, die wie Teichrosen schwimmen, leises Gefröstel unter geschlossenen Lidern. Weit unter uns trägt ein Bussard einen wildzarten Schrei über die Höhen davon.

Wie lange ist es her, daß wir aufbrachen? Plötzlich haben die Stunden wieder eine Zahl, mißt sich der Weg nach Meilen und Bahnstationen. Unter den Schwingen der Vögel breitet der Abend sich aus. Im Grund, immer noch tief unten, schwimmen Lichter, der Fluß bedeckt sich mit Hügelschatten, der letzte Güterzug ist schon lange durchs Tal gerumpelt. In den Bäumen schweigen die Vögel, und nach Hause, nach Hause, wo wäre das hin? Ein Stück Brot, einen Apfel, nachdenkliche Schlucke aus der Wasserflasche. Zwei Lerchen nur noch steigen, zitiere ich leise, du lächelst, Tritt her und laß sie schwirren, zitiere ich, bald ist es Schlafenszeit; und dann schweige ich wieder, und wir erheben uns, schultern zum letzten Mal unsere Rucksäcke und machen uns noch einmal auf den Weg, den Lichtern im Tal zu.

Wenige Schritte weiter lösen sich unsere Finger voneinander. Die Schatten von Katzen treten aus dem Weg, Rolläden klappern, es riecht schon nach Rauch. Auf den Schienen zerfließt das gelbe Licht der Bahnhofslampen. Eine Durchsage hallt blechern von Häuserwänden wider. Der Rhein ist wieder auf Augenhöhe. Langsam schlägt eine Turmuhr die Stunden herunter. Droben aber kauern die Schatten der Burgen, mächtig wie eh und je, und die Vorstellung, ein Tritt könne sie in den Rhein befördern, gehört dem Traum eines Kindes an.

Daß wir uns nicht verirren, in so viel Einsamkeit, zitiere ich. Später, im Zug, will ich dir den Rest aufsagen, aber wie ich mich umwende, ist der Platz neben mir leer. Ich habe vergessen, daß du ja längst schon in einem anderen Zug sitzt, fern von hier, auf einem anderen, ebenso plausiblen Nachhauseweg wie der meine.

Aequinoctium

Himmel, geklemmt zwischen Wein, über Steine klettern die Burgen.
     Wo deine Braue beginnt, öffnet die Ferne den Tag.
Höher greifen die Türme, entziffern die Gleichung der blauen
     Säume des Morgens, vom Feld holen die Wege den Lenz.
Mühlen gründeln im Tal, im Rucksack meutern die Karten,
     Hügel holen den Fluß zwischen den Büchern hervor.
Nie ist es weit zu den Schiffen, der Abend hält schon die Lampe.
     Wo deine Braue beginnt, schließt sich die Ferne im Kuß.

Mitte März

Gedanken, ins Winterlicht niedergeschlagen, Träume, in die Schneeprismen gehaucht, Vögel aus Rauch, am Feldrain  wachsen Muscheln. Wimpern wie Bäume, Meisen durchzucken die Hände, das Gelebte von Küssen schwemmt an die Glocken, ein blaues Wort fällt in die Weite und ein Name, der von dort wieder zurückströmt in die Tiefe des Morgens, wo er Blick wird und Trost.

Barcarole

Am Morgen deiner Abreise lief Mendelssohns Gondellied im Radio. Lange habe ich da gelauscht. Vornübergesunken und schief, wie ich auf dem Stuhl saß, habe ich über den Trillern und schaukelnden Triolen ins Nichts der Töne gestarrt, die Augen jenseits jeder Plane des Sichtbaren eingewurzelt, während ich dem weichen, klagenden Moll der Harmonien und den im Sog der eigenen Zwangsläufigeit fortschreitenden Akkorden folgte, atemlos, hingegeben, bezaubert, für den Moment alles andere vergessend. Wie lange das Stück dauerte, weiß ich nicht. Schon wollte es verklingen. Noch eine kleine Terz, ein schwebendes, trauriges Fallen zum Grundton, ein Weilchen derjenigen Ewigkeit, aus der alle Melodien geschöpft sind, und in die sie nach dem Verklingen jeder Musik wieder zurückfallen, wie Küsse, nachdem sich die Lippen voneinander gelöst haben. Ich lauschte in dieses Weilchen Ewigkeit hinein, bis es verstummte; und dann, im Auftauchen aus den Nachschwingungen der eben an die Luft abgelebten Klänge, hob ich den in die endliche Welt der Tatsachen wieder zu sich gekommenen Blick und sah nach dem Fenster. Ich wußte es noch nicht, aber in diesem Moment warst du schon abgereist, und mein Lebewohl würde dich nicht mehr erreichen. Ich schaute und atmete, im Ohr noch den letzten Mendelssohntriller, und da fiel wieder der Schnee: dicke Flocken, unzählige, und jede einzigartig, ihre eigene, nie zu wiederholende Geschichte in Kristall.

Plötzlich weinte jemand, und ich begriff, daß ich es selbst war, der weinte, und auch, daß die Musik noch gar nicht verstummt war: Eben verstummte sie. Ein letzter Leitton zur Dominante, ein letztes Seufzen der Tonika, noch eine Triole, ritardando, ehe auch dies, und nun endgültig erstarb, und lange Zeit nur das Fallen des Schnees zu hören war.

Buch gesucht

Gesucht wird ein älteres russisches Kinderbuch, Autor und Titel unbekannt. Darin wird die Geschichte eines (Eskimo?)Jungen erzählt, der im Polarmeer auf Treibeis gerät, von einer aufgehenden Spalte überrascht wird und wochenlang auf einer Eisscholle überleben muß. Ganz auf sich allein gestellt, findet er Unterschlupf in einer Schneehöhle und tröstet sich mit der Lektüre eines Buchs, das er im Schein einer Petroleumlampe liest. Ein bißchen Proviant hat er schon bei sich; ab und zu taucht ein Flugzeug auf und wirft Nahrungsmittel und Brennstoff ab. Das muß er sich gut einteilen. Wann ihn jemand retten kann, ist unklar. (Bis das Meer zufriert?) Wahrscheinlich gibt es auch Eisbären, so genau weiß ich das nicht mehr. Was ich aber noch weiß, weil mich das sehr beeindruckt hat: Der Junge hat ein Gewehr und versteht sich aufs Jagen. Die Übersetzung muß in der DDR erschienen sein. Ich glaube, aber sicher bin ich mir auch hier nicht, auf dem Umschlag war ein in Pelz und Mütze gehüllter Knabe mit asiatischen Gesichtszügen abgebildet, der an einem Eisloch angelt. Die Angaben sind spärlich und vielleicht sind sie auch alle falsch.
Weiß trotzdem vielleicht jemand was darüber?

Nubes

Als Christina die Lichtung betrat, sah sie das Ding über der Stadt hängen. Es war ein Ding, wie wohl noch niemand je eins gesehen hatte. Dick und dunkel hing es da, sah aus wie eine Wolke, war keine; warf seinen Schatten auf die Stadt, die sich duckte und ganz klein und spröde wurde darunter; hing in der Höhe, daß der Himmel davor floh, nahm im Umkreis alles Licht aus der Luft, verbreitete Angst und Schrecken; und hatte außer der Furcht keinen Namen.