Silben

So ein Name, drei Silben, nicht lang, nicht kurz, lang genug, weit genug, daß eine ganze Kindheit darin zu Wort und Klang kommen konnte, Mi und Le und Na, solche Silben, lächelnde, ernste, stirnrunzelnde, plappernde Mädchenseelensilben. Mi und Jan, Jan und Le, Na und Jan, mit Mi in einem Schneehaus gesessen, mit Le ein Eis geteilt, und Na hat Vanillestriemen auf ihrer Zunge gehabt, und Mi will mit ihm Küssen üben hinter einer Scheune, und Le hockt mit ihm kichernd unter einem Tisch, an dem ringsum viele Gäste sitzen, mit Na gemeinsam krank gewesen, mit Mi die Windpocken gehabt, Le auf die Toilette begleitet und dort erstaunliches gesehen, und Na, die letzte Silbe, das Ausschwingen und ins Verstummen Laufende ihres Namens, Na, hat ihn nicht ins Auto steigen lassen wollen, in den Wagen, der ihn forttragen würde von ihr, von allen ihren runden, rollenden, Lippen und Zunge zu schöner Bewegung zwingenden Silben, einem Namen, einer Kindheit: Mi, Le, Na, Milena.

Die Schneehäuser sind abgeschmolzen, die Windpocken überstanden. Aber damals ist er ins Auto gestiegen, und später, am Abend, in der Wohnung in der Stadt, da hat er geweint und es nicht fassen können, daß er am Morgen, in einer anderen Welt, ins Auto gestiegen ist. Daß nun Milenas Hier zu seinem Dort und ihr Dort zu seinem Hier geworden ist, und wie das aueinanderfällt, und daß die Zeit vergeht und man nicht zurückkann in ihr, und man darin Dinge tut und getan hat, die man später nicht getan haben will. Das ängstigt ihn und peinigt ihn, und die Mutter kann ihn nicht trösten: Die Mutter, die er wegen Milenas ausgebreiteter Arme gefragt hat, und die es ihm erklärte, Sie wollte nicht, daß du fährst. Sie wollte nicht, und dann ist er aber gefahren. Und er wollte doch auch nicht. Oder wollte er? Und jetzt lag er im Bett, untröstlich, und weinte, daß er hier und nicht Dort war, in Milenas unerreichbarem Hier.

Auf L. warten

Stürme im Bauch und Wellen in der Brust. Armeen von Dermatozoen machen sich die Geographie meiner Haut untertan. Schmetterlingsorkane durchpflügen alle Ordnungen meiner Organe aus Quecksilber und Salz. Die Fingergelenke schmerzen, als wohnten Funken darin. Die Schultern schwimmen mit mir auf dem Sturmwind davon. Die Büsche hängen voll bunter Atemzüge. Mühsam tragen sie daran.

Die Fenster schauen mich an mit Blicken voll Wetter. Viele Himmel über dem Haupt, gehalten von Vögeln. Die Angst ist Kristall und hockt in den Zähnen. Die Wege konzentrieren sich auf mich und lassen mich nicht vorbei. Nichts läßt mich, der Tag nicht, und nicht die Nacht. Alles ist Sammlung. Das Licht konzentriert sich auf meine Augen, bis sie fliegen von Bildern. Am Gaumen arbeitet das zirpende Reiben der Zeit. Stunden wissen von Minuten, Sekunden wissen meine Herzschläge auswendig.

Noch der Schlaf kennt mich genau. Leise prüft er mich mit seinen Träumen. Aber ich singe, singe; ins Dunkel singe ich, um die Finsternis daran zu hindern, in sich zusammenzustürzen. Was gäbe das für ein gleißendes Licht. Aber ich weiß einen Namen, wo das nicht geschehen wird. Das Dunkel wird bleiben und groß sein, und der Name darin hausen, und selbst im Schlaf nicht vergessen sein.

L. begegnen (Eine Phantasie)

Wenn wir uns das erste Mal sehen:
Ich werde dir den Park ganz genau beschreiben, und wie du gehen mußt, um mich zu finden. Es ist nicht schwierig, durchs Tor, einmal rechts, zweimal links, oder andersherum. Ein Stückchen geradeaus, an den Schwänen vorbei und dem Reh aus Gips, bis man zu der Wiese kommt. Ich werde dir ganz genau sagen, auf welcher Bank ich dort sitzen werde, eine Bommelmütze auf dem Kopf, mit geschlossenen Augen, einen ganzen Nachmittag lang. Die zweite Bank von der Hängebuche an gezählt wird es sein. Ganz sicher werde ich da sitzen, und allein: Wenn schon jemand da ist, werde ich ihm sagen, daß ich dich erwarte, und ihn höflich bitten, sich woanders hinzusetzen. Das wird jeder sofort verstehen. Und dann werde ich warten, und ich werde die Augen nicht mehr öffnen. In der Nähe spielen Kinder, ferner Straßenlärm dringt heran, ein Rotkehlchen singt. Irgendwo raschelt eine Zeitung. Musik flüstert aus Kopfhörern. Kinderwagen quietschen, Mütter plaudern. Die Luft riecht bunt und nach Herbst. Die Augenblicke füllen sich mit unbekanntem Du. Ich werde warten, einen Nachmittag lang, viele Schritte werden kommen und gehen. Irgendwann werden es deine sein. Ich werde wissen, wann es soweit ist. Alle Geräusche werden zurücktreten, die Gespräche verebben, die Flugzeuge landen, das Rascheln in der Weide wird verstummen. Und die Ferne, aus der du kommst, wird sich Momente vorher mit einem L.-förmigen Schweigen füllen, wie es nur deinen Schritten vorausgehen kann. Und wenn dann deine Schritte sich daraus lösen, wird der Kies sich genau nach dir anhören. Und das Laub vor deinem Fuß wird mir flüsternd deinen Namen verraten. Ich werde die Augen nicht öffnen, wenn deine Schritte sich langsam nähern. Und ich werde die Augen nicht öffnen, wenn ganz nah ein Zweig bricht. Ich kann dich atmen hören und spüre dich warm sein. Deine Kleider rascheln leise. Aber ich will die Augen nicht öffnen, noch nicht. Und auch, wenn schon dein Schatten über mich fällt, werde ich sie fest geschlossen halten. Noch einen Augenblick soll diese Geschichte dauern, noch einen und noch einen, bevor eine neue beginnt. Dann nennst du leise meinen Namen, und ich werde die Stirn dir entgegenheben und die Augen öffnen, dich anschauen und wissen, wer du bist.

Übung gegen das Ärgern

Der Gedanke nämlich, daß alle diese vermeintlich störenden Menschen den Impuls spüren würden, gleich wie vergraben, verkapselt, verschüttet der auch sein mag, dich zu trösten, wenn du jetzt plötzlich vor ihnen in Tränen ausbrächest. Die Hand auf den Arm legen, beschwichtigend knurren, ein Taschentuch reichen — auch wenn die Hemmung bei den allermeisten größer wäre, das Schöne ist, daß alle sofort wüßten, was eigentlich zu tun sei. (Und rührt die Betretenheit in solchen Momenten nicht aus genau diesem inneren Zwiespalt?) Diese Vorstellung soll mein kleiner unzerstörbarer Glaube an die Menschheit werden.

Hinterher

Früher war die Sache einfach. Da steckte man sich nach getanem Werk eine Zigarette an. Das war so verbreitet, daß die “Zigarette danach” sprichwörtlich wurde. Heute verbietet sich der Tabakgenuß schon aus gesundheitlichen Gründen; aber die Welt ist auch bunter, die Vorlieben individueller geworden. Was hinterher das Beste sei, darüber gibt es so viele Ansichten wie es Arten von Menschen gibt. Je nach Geschlecht, Alter und Veranlagung werden die unterschiedlichsten Bedürfnisse laut für die Momente unmittelbar danach. Während junge Männer etwa gleich noch einmal können (der Schweiß ist noch nicht getrocknet, da denken sie schon über die nächste Runde nach), beweisen ältere zwar mehr Ausdauer währenddessen, sind aber danach so erschöpft, daß sie erst einmal ein Bier oder einen Kaffee brauchen, und dann Tage benötigen, bis sie sich erholt haben und zu erneuter Anstrengung fähig sind. Sie seufzt, setzt sich die Lesebrille auf und greift nach dem Krimi. Anders die jungen Frauen: Sie machen gern danach Gymnastik und müssen sich ausgiebig pflegen. In späteren Jahren trinkt die Frau nach der Bewegung in gehobener Stimmung gern ein Gläschen Sekt. Hygienefanatiker müssen gleich unter die Dusche, während andere mit einem Erfrischungstüchlein oder einem Handtuch vorlieb nehmen. Vollgepumpt mit Endorphinen, küssen sich romantische Seelen ausgiebig. Nüchternere Menschen schlüpfen im Anschluß sofort in Anzug und Krawatte und nehmen sich die ausstehende Quartalsbilanz vor. Unter den Männern gibt es Erfolgstypen, die glauben, als erstes ihre Leistung protokollieren zu müssen. Frauen tendieren hingegen dazu, das Geschehene revue passieren zu lassen und darüber zu sinnieren, wie schön es war. Gesundheitsbewußte kontrollieren zuallererst Pulsschlag und Blutdruck, während den lukullisch Veranlagten erstmal der der Hunger drückt. Andere haben nur Durst und trinken wie ein Pferd. Viele Frauen wiederum wollen vom Essen gar nichts wissen und rechnen lieber die verbrannten Kalorien nach. Manch eine wünscht sich aber dann doch Schokolade, eine andere Rotwein. Oft widerstreiten sich die Bedürfnisse: Die eine möchte noch gern kuscheln, was dem anderen zuwider ist, während eine dritte sich wünscht, er möge sie noch ein bißchen massieren; der aber hat schon zu schnarchen begonnen, denn ein “Schläfchen danach” ist für ihn das Größte. Nickerchen, Fernsehen oder in den Korbsessel auf dem Balkon: So viele Menschen, so viele Vorlieben. Man muß da einen Kompromiß eingehen, wenn man’s gemeinsam macht.
Was mich betrifft, so gestehe ich freimütig: Ich halte es mit der Duschfraktion. Hinterher muß ich als erstes duschen. Ja, es gibt für mich nach dem Laufen nichts Schöneres, als mir den Dreck von der Wade zu spülen.