Frivol: Schmerztabletten, Kaffee & Mozartkugeln zum Frühstück.
Monat: November 2012
Zwischen den Stürmen in den Wald. Auf den Wegen wieder die Mythologien des Laubs, Türme aus Farbe, von den Zehen bis über den Scheitel hinaus, das zwingt den Kopf in den Nacken, den Blick hinauf zu den Massen von Himmel. Die Sonne schreibt dem Tag was auf seine leuchtenden Banner, Hieroglyphen blitzen auf Lehm, in der Ferne schreiten flammende Riesen. Staunen, wie das Licht das alles, die Farbe, den Himmel, die Augen, mit Leichtigkeit trägt und hält. Es ist, als müsse man nie nie nie mehr atmen: es reicht, nur noch so blickauf für immer in die Sonne zu blinzeln. Ein Häher schreit. Eine Hülse platzt. Die Stunden drehen sich im Reigen fort. Ins Laub fließt die Stirn, und zwischen zwei Blicken verschwindet eine verborgene Welt. Als wäre irgend einmal eine Liebe ohne Schmerz möglich gewesen; und vielleicht war sie das im Staunen zwischen zwei Herzschlägen Traurigkeit ja wirklich einmal.
Anderswohin
Dem Tag beim Zu-sich-Kommen zusehen und wie
die Bäume sich
aus der Dämmerung schütteln
und dann noch einmal still werden bereit
den Stürmen des Tags
und wie der Weg mich
abwerfen will wie einen übermüdeten
Reiter: Als es ihm nicht gelingt wirft er
schon nicht mehr ernst
mit Pfützen nach mir
später entläßt mich
ein Fichtenhain
nach ein paar Stolperschritten da weiß der Himmel
was von Zweigen
zu berichten und von Wipfeln
gehüllt in die schnaubenden
Gründe ihres Daseins
stehen die Pferde auf der grauen Weide
frühes Licht an versunkenen Höfen fern
gehen Straßen und Ströme
an den Rändern
von allem das reicht
nicht bis hierher das muß
für immer anderswohin.
Nereiden, Nixen, Nymphen
Als wäre das Flüssige ihr Element. Ein Pulsieren im Blaugrün der Schläfe, Geschimmer auf sinnenden Lippen, das Pfirsichfrische eines Nackens unter gewaschenem Haar, die rasch ins Hauchige einer kaum wahrgenommenen Abkühlung sich verströmenden Abdrücke ihrer nackten Füße auf dem heißen Terracotta eines Innenhofes, (wie das über dem Stein sich zusammenzieht und man dem Schrumpfen zusehen kann: Kaum bemerkt, vergeht schon die Rundung des Mittelfußes, verinseln die Zehen, die Ferse bleibt, als stärkster Druck, noch am längsten erhalten, eine Spur, schneller als man ihr folgen kann, löscht sie sich zuschauends selbst), (das Licht in diesem Hof so stauhell, daß man, selbst wäre die Fußgängerin noch da, sie nicht sehen könnte vor lauter Blendung, so ein Licht, wie ein ins Außen gewendeter Kopfschmerz, eine Migräne der Luft, in der alles außerhalb einer Armlänge in Strahlungseruptionen zerbirst) oder im trocken zerfallenden Flußufersand einrieselt. Oder sich abstreift an Wedeln und Halmen von Farn: kaum bemerkt sich die Bewegung selbst, schlägt schon der Vorhang hinter den aufschimmernden Sohlen zusammen, bleibt nur noch die Feuchte des Vorübergehens an bebenden Thalli haften).
Nässe und Flüssiges auch als Spiegel, als Doppelwurf von Licht und Wesen, von Blickauf und Blickab, als Wahrnehmung von Schönheit selbst noch durchs Unbelebte eines Brunnens, Tümpels, Stromes, Gesichter mit sternförmigen Augen, wackelnd von unstetem Spiegel, zwischen Rosen, deren Blätter zögernd die wäßrige Tiefe hinabzählen, mit Dornen und Petalen, und darin, umkränzt wie mit Duft, ihr Antlitz, dort sich niedersenkend in der Betrachtung, hier im Staunen hinansteigend zur Oberfläche, ins Trockene, ins Wiederfeuchte von Zunge, Nebel, Träne, und in dieser Doppelung der Akt des Wiedererkennens und Wiedererregens an sich selbst (und wieder hinab:): Ein Synergon, das von der Grenzfläche nach beiden Seiten abstrahlt und fortwirkt: Und so geht erschauernd die Schöne davon, sinkt die andere Schöne hinab in den Grund, bleibt und steht erschauernd der Teich, erstarren die Nympheae noch lange, sich selbst Rätsel gebende Minuten, das Schilf mit den Schatten des Fortgangs dazwischen, stehen, schauern, stehen: als Berührte. Als bliebe die Wärme der Haut dem Wasser noch einen Augenblick der Gnade lang erhalten, als zittere die Wärme der Wangen verschwindend, sinkend, auch in die Tiefe hinein fort, als hielte sich noch etwas hie und da, schwebend wie Dunst über der Kühle des Fehlens. Das Fließen zuletzt, wie Tränen, in den Augen und Wangen, ein Leuchten wie von der Feuchtigkeit der Iris, schillernd, außer sich bringend mehr als sie selbst enthält.
Oder wie ein von je geträumter Traum vom Meer oder einem ähnlichen Ufer, wo sich, aus einem Raum über, hinter, jenseits von mir, jedenfalls ungesehen, außer vielleicht vermittelt durch eine stille Erinnerung an die Ahnung von Kühle, der Wegnahme des Lichts durch einen Schatten, wo sich also aus diesem ewig unergründlichen Hinter-mir eine Stimme erhebt, kühl und wässerig, fließend von Feuchtigkeit, während ins Sehfeld hinein Tropfen abgeworfen in den Sand fallen, zuvorkommend noch der zwittrigen Seinsweise der (rücklings warmen, palmisch feuchten) erfrischend feuchten (auch salzigen) Hand, ihre unversehene Zitronen-Berührung, ein Zauber brackigen Honigs.
Dieser Müdigkeit auf den Grund gehen. Sie aushalten, die Müdigkeit, die Erschöpfung jenseits allen blauen Schlafes ausloten, und in der Überwindung aufstoßen, öffnen, dem auf den Grenzlinien entlanggenarbten Bewußtsein ins halb Bodenlose blicken. Darin finden sich vielleicht, zweifach prismenhaft über die Ränder der Aufmerksamkeit hin gebrochen, eingerollt wie wartende Schlangen, harrend wie zweifelhafte Aussichten, zwei Wörter, drei Wörter, ein Schillern von Ambiguem, Fingerlinge aus Bedeutung, schon umgestülpt in den Schattenspiegelraum man weiß nicht: deines oder meines Schlafs.
Das eine Wort schreiben, das einzig richtige, nur um es zu sehen, wie es da steht, neben ihrem Namen, nur um es lesen zu dürfen, einmal leise, einmal laut, nur um es endlich einmal geschrieben zu haben. Are you ready to send this message? Auf cancel klicken. Do you want to save the message in the Drafts folder? Wozu? Es ist nur ein Wort, das weiß ich auch morgen noch. Und dann kann ich es ihr nochmal schreiben.
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Gruß
Eine Stunde
einmal bin ich nachts wachgeworden und konnte nicht wieder einschlafen. ich habe licht gemacht, eine rolle kekse geöffnet und gelesen. es war weder tag noch nacht, obwohl es stockfinster war hinter den scheiben, in denen ich mich verschwommen spiegelte: als gäbs gar kein draußen mehr. die uhr zeigte irgend eine zeit an, das radio hätte mir sicher ein datum verraten, doch war es noch nicht heute und nicht mehr gestern. ich saß im kreis der lampe, gekuschelt in decken, und außer mir, meinem zimmer, den süßen keksen und der verschlungenen geschichte im buch gab es nichts, gar nichts mehr. die finsternis war nicht mehr das dunkel der nacht; es war das fehlen von allem. ich saß in einer zeitkapsel und schwebte der unendlichkeit davon. stahl ihr, während sie nicht aufpaßte, eine stunde. das war schön da und ganz still, in meinem kokon aus geklauter zeit.
doch beim erwachen anderntags blieb diese stunde in ihrer bestimmung unklar, wie es mit gestohlenen dingen eben geht, sie haben ihre eigene geschichte. losgelöst aus dem strom und den übrigen stunden abhanden gekommen, der wachen wie der schlafenden, lebt diese herausgenommene zeit zwischen schlaf und schlaf nur für sich, hat keinen anker und keinen halt. ich weiß nicht, wann das war. es gab diese stunde; und doch hat es sie nie gegeben. irgendwann war die kekspackung leer; ich bin dann zähneputzen gegangen, habe das licht ausgemacht und bin sofort eingeschlafen. später, am andern tag, nach dem wirklichen erwachen, kamen die zweifel. war nicht alles ein traum gewesen? ich schlug das buch auf: das lesezeichen hatte sich nicht weiterbewegt. und doch wußte ich genau, wieviele seiten ich gelesen hatte, konnte sogar den letzten satz angeben. und die kekse waren verschwunden, die leere packung unauffindbar. war ich das gewesen? hatte ich überhaupt kekse im hause gehabt? oder hat ein anderer diese wache stunde an meiner statt erlebt? woher kommt dann aber meine erinnerung, und an welche zeit ist die eigentlich?
ich habe dann die entsprechenden seiten noch einmal gelesen. um sicherzugehen.
guideline daily amount
Es gibt Tage, da ist die täglich maximal erlaubte Anzahl fremder Menschen in meinem Gesichts- und Gehörkreis schon um zehn Uhr morgens erreicht. Wenn dann der Tag lang ist, und die zu überbrückenden Räume nicht anders als mittels ÖPNV überbrückbar sind, dann wird es schwierig.
Manchmal wünsche ich mir ein Schneckenhaus. Ein kleines feines, stabiles praktisches, leicht zu reinigendes, schnirkelig-gemütliches Überalldabeiheim. Innen größer als außen. Gerne faltbar. Zum Überwintern und Überlärmen. Tritt-, Stoß- und Rempelfest. Blick- und Fremdhautabweisend. Schalldicht. Das wär ganz toll.
Dann hebt sie den Arm, und
Den Ausgang nehmend von einer vor Jahren angestellten Beobachtung von Esthers im Aufwärts eines Griffs zum Haarband flüchtig geöffneter sommerlicher Achselhöhle, deren üppiges, blondes, in einen Rotton hinüberschillerndes Haar, indem es weit den Oberarm hinauf und die Flanke hinabwucherte, die Grenzen seiner kleinen Behausung förmlich schien überwinden zu wollen (wie da die Locken unter dem Saum verschwanden, hätte man sich vorstellen können, die ganze Brust sei behaart) – ausgehend von diesem Anblick also und indem ich vom Haarwuchs in Esthers Achsel auf den Haarwuchs am eben sichtbar gewordenen Ort schließe, stelle ich mir hier ein ähnlich wildes, ausuferndes, die Beschaffenheit des ersteren gleich einem Thema wiederaufnehmendes Wuchern vor, und daß Esther zu der Art Frauen gehören müsse, deren langes Venushaar schenkelwärts bis in die Schrittfalten weit aussprießend infolge solcher Üppigkeit (besonders beim Spreizen der Schenkel) ein Rechteck bilde, und sich in der Form eines gebogenen Trapezes vom Unterbauch bis zu den Gesäßbacken erstrecke, eine Verhüllung, ein alles darunter Liegende verbergender dichter Pelz langer, wie elektrisch vibrierender Flechten, darin der gedämpfte Lampenschein in mal herabführenden mal einander kurzschließenden Drähten schimmere. Und wie um mir recht zu geben in meinen Schlüssen und meine Verknüpfungen zu bekräftigen, hebt Esther in diesem Augenblick den Arm hinter den Kopf und entblößt mir abermals, als erinnere auch sie sich und knüpfe nun an jenen Anblick vor zwanzig Jahren an, ihre Achsel (rotschopfig und üppig behaart wie je) und zitiert auf diese Weise nicht nur die eine Stelle mittels der anderen; zitiert auch den damaligen Augenblick der unabsichtlichen mit dem jetzigen der beabsichtigten Entblößung, und umgekehrt; zitiert unser ganzes damaliges Selbst mittels dem, was wir jetzt an uns und aneinander sind und gleich noch mehr sein werden (oder umgekehrt?); und verbindet damit die vergangene Stunde mit dieser zu einer langen, umwegreich versponnenen Erzählung: unserer Geschichte, die wir uns eben jetzt anschicken, zu Ende zu erzählen.
Der kritische Moment
(Einen Augenblick bleibt das noch mittig haften, zögert der Stoff, sich ganz zu lösen, und fast möchte ich glauben, ein leise reißendes Geräusch zu hören)
Wie sie das dann achtlos fortwirft. Fahrig, in Hast, die Stirne dabei in Falten gelegt wie von einem leichten Unwillen: Das überrascht zuerst meine Vorstellung, aber dann, ja, dann ist es ganz schlüssig, warum das vor sich geht, wie es vor sich geht, und was es bedeutet, und daß die Achtlosigkeit nur vermeintlich ist: Wie sie das Stück Stoff zusammenknüllt und dann fort damit, gewollt beiläufig, dabei ganz konzentriert, als lege sie mit diesem knappen, weißen (ja, Esther trägt weiß), in der Abstreifbewegung sich verknäuelnd eingeschrumpelten Stück Stoff auch alle Schamhaftigkeit selbst ab, oder noch anders: als entledige sie sich zugleich mit diesem letzten Hüllsamen auch des Heiklen der Nacktheit selbst, und daher rühre auch die Hast beim Fortwerfen (nicht zur Seite aufs Bett, nicht ans Fußende, sondern ballistisch weit weg, auf den Boden, in die Zimmerecke, herunter, heraus, fort, außer Reichweite), als entblöße der Stoff in seinem Verschwinden gar nichts; sondern als sei er vielmehr selbst das Entblößte, und böte dieser Schlüpfer die eigentlich schamverletzliche, unaussprechliche Stelle und den Punkt jeglicher Übertretung dar, indem er vielleicht alle Schamlast stellvertretend auf sich nehme und alle Beteiligten (mich wie sie) in seiner Vernichtung davon entbinde: Und so, stelle ich mir in einer Art Rückblende vor, hat Esther das Höschen auch eben ausgezogen: geschwinde, ungeduldig zerrend, als er verzwirbelt an der Ferse hängenblieb, in einer ruckartig reißenden Bewegung, die sich ihrer selbst nicht bewußt sein will und es aber doch auf dringliche Weise ist; so wie man schnell in kaltes Wasser hineinläuft, und sich bemüht, tunlichst nichts zu denken, hastig, sich selbst überrumpelnd, bevor man es sich noch einmal anders überlegen kann und Schwung und Mut verliert, und es dann doch nichts wird mit dem Schwimmen: so auch jetzt Esther beim Ausziehen. Würde sie noch einen Augenblick länger dazu gebraucht haben, hätte sie den Schlüpfer wieder angezogen. Also schnell herunter und weg mit dem Ding, aus den Augen, aus dem Sinn. Zur Logik dieser Vorstellung paßt, daß sie niemals zugelassen hätte, daß ich sie ausziehe; ein letztes Verbot muß bestehen, eine letzte Nacktheit unverhüllt bleiben, und so darf auf dieses letzte Kleidungsstück vor der vollständigen Nacktheit nicht einmal ein kurzer Blick von mir fallen.
(Deshalb hält sie mir auch während des ganzen Vorgangs den Blick fest. Als würde sie in der Betrachtung des Schlüpfers meine Aufmerksamkeit erst recht dorthin lenken: Sieh woanders hin! Sieh mich an!)
(Ihr verschmitztes Lächeln dann (wie aufatmend, daß nun das Schwierigste geschafft, der kritische Moment bemeistert sei), während sie den Kopf, mir zugewandt, aufs Kissen, und die angewinkelten Knie auseinanderfallen läßt.)
Und ich weiter in meiner Vorstellung meinen Blick auf das, was der Schlüpfer, nun selbst schamhaft in der Zimmerecke versteckt, mir zum Anschauen bloßgelegt hat (bereitwillig, auch wenn er einen winzigen Moment dabei wie eingeklemmt hat zögern wollen), auf Esthers von aller Hemmung nunmehr befreite, infolgedessen ohne Scham (aber nicht schamlos) sich darbietenden Scham.