Locus amoenus

Einen Ort im Wald suchen, der dich aufnehmen wird, der dich durch die Nacht tragen wird, der dich am Leben läßt. Einen Platz für Zelt und Kocherflämmchen, und wo die Bäume nachts stehenbleiben und nicht zusammenrücken, um Tuch, Gestänge und Knochen zu zermalmen, ein Ort, wo du als Fremder fremd bleiben darfst und an dieser Fremdheit nicht zugrunde gehen mußt. Ein Ort, der in der Nacht zu Hause ist, wo das Flämmchen nicht ausgeht. Du mußt ihn alleine bestehen können, den Ort. Es muß ein Ort sein, der das Alleinsein nicht gegen dich richtet, es dir nicht widerspiegelt und zurückwirft, bis du dich selbst nicht mehr kennst. So ein Ort ist auf den Karten nicht verzeichnet.
Es gibt eine Einsamkeit, die mehr ist als die bloße Abwesenheit von Artgenossen, eine Verlassenheit, tiefer und leerer als das bloße Fehlen von Anzeichen, die zumindest auf vorübergehend hausendes Leben weisen. Ein Ort kann so einsam sein, so öde, daß dieses Leere durch nichts zu füllen ist, nicht durch Töne, nicht durch Farben, nicht durch den Duft von Suppe und Wein. Es gibt Winkel im Wald, da erstirbt jedes bis dahin noch lebhafte Gespräch, und aus Flöte oder Fiedel bekommt man keinen Ton mehr heraus. Im Radio nicht einmal Rauschen. Das Mobiltelephon geht quietschend aus. Selbst das Fingrschnippen hört sich kraftlos an. Eine solche Ödnis saugt das Leben aus jeder Anwesenheit. Es höhlt dich aus, und läßt alle Kräfte, jeden Widerstand, jeden der Einsamkeit entgegengestemmten Willen ins Leere laufen und ermüden, bis Trübsal und Vergeblichkeit in jeden Gedanken kriechen und den Geist vergiften und du nichts mehr vermagst als hinzusinken und dich deiner schieren Verzweiflung zu überlassen.
Oder ein Ort, wo andere schon wohnen. Das findest du dann zu spät heraus. Eine Lichtklinge, ein Gurgeln plötzlich aufschießenden Wassers, schwingendes Schilf, Laubwirbel, und der Knall harter Hufe dringt in dein wegflatterndes Bewußtsein nur noch als der Lärm einer windumtosten Ferne vor, ehe alles erlischt und der Mond allein im Wasser kreiselt. Das Bittere einer fremden Erinnerung. Sie wird deine eigene, dein Gedächtnis, deine eigene Bitternis, ekelhaft wie ein faules Blatt, das sich dir an den Gaumen schmiegt. Gift, das ein Sonnenstrahl aufzeigt, der auf den Purpur einer Beere fällt, und wie das Bittere Klang wird in den Schnäbeln der Amseln.
Schicht um Schicht zerfällt der Umriß dessen, was bei Einbruch der Dämmerung Vegetation war, und löst sich, Ilexgestammel, das Gewürz welker Anemonen, Krüppelungen toten Holzes, die Bögen verstümmelter Buchen, löst sich voneinander und gerät in eine wimmelnde, exstatische Bewegung, die langsam, wie eiskalte Flammen, in denen das Dunkel selbst in Brand steht, Nahrung im Fernen und bald auch im Nahen findet, bis auch der Grund vor deinen müden Schuhen davon erfaßt wird und das Laub, zunächst wie von Wind und Strömung, bald von Rücken und Flossen und Tastern erfaßt, zu kochen beginnt.
Manche Orte laden dich ein, aber sie sind selten, weit verstreut liegen sie im Wald, unzugänglich, umstellt von Widerstand, man stolpert dran vorbei, man findet sie schwer. Der Blick gleitet vexiert dran ab. Ein Ort zum Bleiben darf nicht zu viele Erinnerungen besitzen. Orte mit einem großen Gedächtnis dulden kein zweites lange bei sich. Eine Nacht an einem solchen Ort, und du wirst wahnsinnig von seinen Einflüsterungen, als hättest du all das selbst erlebt, bis du nicht mehr weißt, wer du bist. Dann ist es nur ein kleiner Weg, bis du nicht mehr bist, was du warst, und an die Stelle deines Verstandes etwas ganz Neues treten muß, nur ein Rucken des Kopfes entfernt, ein Rauschen über den Wipfeln, einen Flügelstoß weit; ein unbedachtes Augenauftun steht zwischen Verlust und Verwandlung, nur ein angstvoller Herzschlag ist es dann von dir zum Baum, von dir zum Häher, von dir zum Salamander, der du wirst, der du schon bist im Augenblick, da ein Tropfen Tau deinen schutzlosen Nacken netzt.

0 Gedanken zu „Locus amoenus

    1. Ach, ich weiß nicht. Dann würden sich die Wälder doch nur mit Menschen füllen und es wäre aus mit der Magie.
      Was ich am meisten in Wäldern fürchte, sind denn auch nicht Tiere oder Geister, sondern Menschen: Förster, Jäger, Waldarbeiter. Denn von denen sehen es manche gar nicht gern, wenn man in ihrem Revier zeltet.
      Ich muß auch bald mal wieder hinaus. Zuletzt, an Sylvester, habe ich ja leider gekniffen.
      Wo waren Sie zuletzt unterwegs?

      1. Bei Förstern ist es hilfreich, einen Kaffee im Angebot zu haben; das besänftigt. Meine letzte nächtliche Wanderung (viel zu lange her!) führte in Mittelhessen um den Edersee; der Schlafplatz in der Nähe eines Wildschweintrampelpfades war höchstens ein mittelguter. Ansonsten: Taunus. Und ein bißchen Rheinhessen, auch wenn das als Wanderlandschaft eher Gelächter provoziert. Unterschätzt, sage ich!

  1. Förster, Jäger, Waldarbeiter….ich finde, die gehören dazu, zu den Lebewesen im Wald und stören mich nicht weiter. Was mich persönlich im Wald stört, sind Familien mit Picknickkörben und ihre Müllhinterlassenschaften, sind kreischende Kinder auf kleinen Fahrrädern, sind frei umherlaufende Bullterrier, sind schwitzende Jungs auf Mountainbikes, sind an die Bäume getackerte Hinweise von GPS-Wettbewerben und Sammler, die die Pilze samt Wurzel herausreissen.
    LG von Rosie
    P.S. Wieder ein sehr schöner, atmosphärischer Text!

    1. Mich stören die Förster auch nicht, aber ich habe Angst, verjagt zu werden, weil es ja nun nicht erlaubt ist, im Wald zu zelten (oder irgendwo in der freien Natur). Und vor Jägern, besonders in der Dämmerung, fürchte ich mich ganz besonders. Die Bergradfahrer und Sonntagsscharen sind dort, wo ich unterwegs bin, zum Glück nicht anzutreffen.

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