Wie lautet eigentlich das Präteritum von hauen?
Was ist ein Born?
Was bedeutet sich (einer Sache) verdanken?
Daß Sprache sich wandelt, ist nichts Neues mehr und scheint sogar in den Köpfen der Mitglieder der DUDEN-Redaktion begriffen worden zu sein. Daß dies ein nicht aufzuhaltender Prozeß ist, hat sich zwar noch nicht herumgesprochen, ist aber ebenso richtig. Daß Sprachwandel weder gut noch schlecht ist, diese Ansicht würden wohl wenige Sprecher des Deutschen oder irgendeiner anderen Sprache teilen. So dürften wohl nicht wenige darüber besorgt sein, daß Ausdrücke oder Flexionsformen, die doch bis eben noch, wenn auch nicht zur Umgangssprache, so doch zum normalen schriftsprachlichen Wort- und Formenschatz des Deutschen gehörten, auf einmal in der aktiven Sprachkompetenz jüngerer Menschen fehlen und zum Teil gar nicht mehr verstanden werden. Besonders erschreckend ist das, wenn der Altersunterschied gar nicht so groß ist. So wunderte sich einmal ein etwa zehn Jahre jüngerer Kommilitone über den Ausdruck streitbar („Die Sueben sind die streitbarsten unter den germanischen Stämmen“).
Es ist schlimm genug, daß man als Glieder unterschiedlicher Generationen in verschiedenen Welten zuhause ist. Schlimm genug, daß heute kulturelle Phänomene, die eine lange und reiche Tradition haben, wie etwa die abendländische Oper, nicht nur nicht mehr vermittelt, sondern, wen wundert’s, von den Jugendlichen ignoriert werden. Am Schlimmsten aber ist der beginnende Verlust einer gemeinsamen Sprache. Als Linguist weiß ich, daß diese Formulierung übertrieben und am Sprachwandel nichts zu bedauern ist (weil es nämlich keine objektiven Kriterien für „Verlust“ oder „Gewinn“ gibt). Bestimmte Erscheinungen sterben ab, andere wachsen nach. Nur weil die ersten alt sind, sind sie nicht besser, ebensowenig wie die neuen schlecht oder Zeichen eines „Verfalls“ sind, nur weil es sie erst seit gestern gibt.
Als Muttersprachler aber und jemand, der in seiner Sprache zuhause ist, der seine Sprache aufgrund ihrer Möglichkeiten schätzt, sie um ihrer ihrer Schönheiten aber auch ihrer Widerstände und Unzulänglichkeiten und erst recht um der in ihr verfaßten Literatur willen, jawohl: liebt – beunruhigt mich ein solcher Wandel, bedaure ich ihn, empfinde ich ihn als Verlust.
Zwei, die nicht dieselbe Welt bewohnen, können sich, ist nur die Sprache noch gemeinsam, über die Unterschiede ihrer Welten verständigen. Zwei die nicht mehr dieselbe Sprache sprechen, nehmen einander womöglich nur noch als Kuriosität wahr. Schwerer als das aus gegenseitigem Vorbeisehen stammende Auseinanderdriften der kulturellen Welten ist das Auseinanderdriften der Sprachen.
Was uns trennen wird, ist dann nicht mehr, daß ich bei „Homer“ an den „ersten Dichter des Abendlandes“ (Latacz) denke, jüngere Menschen aber an eine Witzfigur mit dem Nachnamen Simpson; die Trennung reicht tiefer also nur die unterschiedlichen Assoziationen zum Stichwort „Hannibal“ (Elephanten hier, Lämmer da): Was uns dann trennt, ist die Sprache, und was beunruhigt, ist der Gedanke, wir könnten einander bald nicht mehr verstehen. Keine Fremdheit fühlt sich so vollkommen an, wie die sprachliche. Man muß nicht erst unter Menschen geraten, die eine ganz andere Sprache sprechen als man selbst; muß nicht erst in die Zwangslage kommen, ein ernstes und obendrein kompliziertes Anliegen mit Händen und Füßen verständlich machen zu müssen. Es genügt, in einem Gespräch ein Wort zu gebrauchen, das der andere nicht versteht – oder über das er womöglich in Heiterkeit ausbricht. Manchmal reicht eine Aussprache, die anderen auffällt, um sich verunsichert und höchst unbehaglich zu fühlen. Ich erinnere mich, daß ich einmal wegen meiner Aussprache des Wortes Walnuß (mit langem a) und über meine Zitierform des Fragepronomens was (ebenfalls langes a) regelrecht ausgelacht wurde. Dialektsprecher in einer Hochdeutschen oder Hochdeutschsprecher in einer Dialektregion dürften dieses Unbehagen ständig spüren. Eine vermeintlich falsche oder abweichende Aussprache kann manchmal sogar zur Stigmatisierung führen oder wird zum entlarvendes Zeichen (Shibboleth). Um wieviel mehr beunruhigt es, wenn sich herausstellt, daß man gar nicht verstanden worden ist, wo doch vermeintlich ich und der andere dieselbe Sprache sprechen. Es kommt manchmal vor, daß ich gegenüber Nachhilfeschülern Übersetzungsvorschläge gebrauche, die im Wortschatz des Schülers nicht vorkommen. Das Verb trachten war ein solcher Fall.
„Trachten“?? fragt meine Schülerin zurück, und ich kann deutlich die beiden Fragzeichen hören. „Trachten!“ entgegne ich, „hast du noch nie das Wort trachten gehört?“
Kopfschütteln.
„Wie in jemandem nach dem Leben trachten“
Kopfschütteln.
Während das unbehagliche Gefühl, das mich bei derartigen sprachlichen Differenzen beschleicht, noch eher persönlicher Natur ist, finde ich die Vorstellung in größerem Maß beunruhigend, daß, wenn die Umwandlung von Wortschatz und Flexion in dieser Geschwindigkeit fortschreitet und nicht auf Einzelfälle beschränkt bleibt, bestimmte Kulturgüter nicht mehr rezipiert und ihre Kenntnis, Präsenz und Verfügbarkeit für den täglichen Diskurs nicht mehr vorausgesetzt werden kann.
Ein paar Wochen später sagt mir meine Schülerin entrüstet, sie formuliere ihre Aufgabe doch nicht aus, vor allem, wenn sie die Primärtexte selbst nicht verstanden habe.
Warum habe sie es denn nicht verstanden?
Na ja, wenn das so komisch geschrieben sei …
Aha, denke ich. Wahrscheinlich kamen so merkwürdige Wörter wie nach etwas trachten vor. Übrigens sagte sie nicht „Primärtext“.
Man muß sicher nicht zu Kleist oder gar Luther hinabsteigen, um Texte zu finden, die merkwürdig geschrieben sind. Wahrscheinlich ist bereits Thomas Mann merkwürdig im Sinne meiner Schülerin. Wenn aber gewisse Texte, die ein klassisch gewordenes Kulturgut befördern, nicht mehr gelesen werden, weil die Sprache darin unverständlich ist, dann greift dieses Unverständnis auch wieder zurück auf die Trennung der kulturellen Welten. Irgendwann haben wir dann vielleicht die groteske Situation, wie sie John Updike in Toward the End of Time in einer Nebenszene schildert, wo er in einer etwa hundertjährigen Zukunft ein junges Mädchen eine gekürzte und mit erläuternden Anmerkungen versehene Ausgabe eines „Klassikers des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts“ lesen läßt. Gemeint ist Noah Gordon. Weit hergeholt ist das nicht: Heute liest man an deutschen Gymnasien Das Parfum.
Ob meine Schülerin Das Parfum gelesen hat, weiß ich nicht. Der Name Christoph Willibald Gluck sagt ihr jedenfalls nichts. Der Name Jaques Offenbach auch nicht. Aber ich soll ihr ja auch Latein beibiegen, nicht die Musikgeschichte.
Vielleicht bin ich ja zu streng. Man kann nicht alles lernen, der Wissenszuwachs der Menschheit ist enorm, Selektion unabdingbar, die Konzentrations aufs Wesentliche wichtig. Schließlich muß man heute wissen, wie ein Textverarbeitungsprogramm funktioniert, wie man ein Mobiltelephon programmiert oder ein Filmchen bei Deineröhre hochlädt – das mußten wir zu meiner Zeit nicht. (Leider hat es den Anschein, daß die Fähigkeit, im Internet Relevantes von Unsinn zu unterscheiden, nicht zu diesen neuen Kernkompetenzen gehört. Jedenfalls ist die Herangehensweise derer, die mit diesem Medium aufgewachsen sind, von bemerkenswerter Blauäugigkeit.)
Ursache und Wirkung lassen sich aber auch umdrehen: Denn woher sollen bestimmte, heute auf das Schriftliche beschränkte Formen wie das Präteritum von hauen (für die jüngeren Leser: hieb) oder Vokabeln wie streitbar denn gelernt werden, wenn nicht aus den Texten, die aufgrund ihrer vermeintlichen Schwierigkeit gemieden werden? Daß diese Präteritalformen, daß diese Ausdrücke nicht mehr Teil des Sprachschatzes sind, beweist nichts anderes, als daß die Texte, in denen sie überhaupt erst begegnen, nicht mehr Teil der Lektüre derer sind, die heute in die deutsche Sprache hineinwachsen oder lernen sollen, sich mit mehr als nur dem allergröbsten Werkzeug in ihr auszudrücken: Sie sind dann nicht mehr Figuren im Sprachspiel, und insofern machen sie dieses Spiel ärmer.
Kultur und Sprache sind in diesem Sinne aufs engste miteinander verwoben. Es gibt keine lebendige Tradition ohne Kenntnis auch aus der Mode gekommener sprachlicher Form; und die Kenntnis dieser Sprachstufen wiederum versetzt erst in die Lage, literarische Traditionen zu rezipieren und weiterzutragen, daran mitzuwirken, daß der Faden nicht abreißt. Dazu scheint mir aber auch die Bemühungen von Schule und Elternhaus nicht ganz unwichtig zu sein. Irgendwo muß es eine erste Berührung, ein Hinführen geben. Als Kind haben wir noch selbstverständlich die Grimmschen Märchen im Urtext gehört. Ich bin sicher, daß das “komisch geschrieben ist”. Gestört hat es uns nicht. Hauptsache, es wurde uns vorgelesen. Selbstverständlich ist aber heute gar nichts mehr.
Daß ich nicht weiß, was ein Mudda-Spruch ist, mag noch dahingehen. Daß meine Schüler den Namen Gluck nicht mit Musik sondern mit einem Huhn verbinden – das läßt sich richten. Wir leben bereits in zwei entfernten Welten, die sich nur im Trivialen noch überlappen. Ich weiß ja auch von einem Menschen namens Bushido nur den Namen und schließe messerscharf, dies müsse ein Japaner sein. Uninformiert bin ich also ebenso wie meine Schüler. Und aus der Sicht dieser Schüler ist mein eigenes Wissen ebenso belanglos wie Bushido für mich belanglos ist. Wichtig ist wohl, daß man sich trotzdem nicht aus den Augen verliert – und daß man sich verständigt, und es einem nicht gleich die Sprache verschlägt, weil man ausgelacht wird.
Immerhin habe ich nicht erklären müssen, was eine Oper ist. Es gibt also noch so etwas wie eine gemeinsame Basis, die nicht gänzlich trivial ist. Inzwischen weiß ich auch ungefähr, wer Bushido ist.
„Dann wollen wir mal weiterlesen“, sage ich zu meiner Schülerin und beende meine Ausführungen über Christoph Willibald.
Sie aber sieht mich an mit großen Augen und fragt:
„Was ist denn eine Owertühre?“