Wir brauchen mehr Verbote

In der Ausgabe 36, 2011 der Wochenzeitung <i>Die Zeit</i> ging es im zweiten Leitartikel über die Zunahme von Verboten im öffentlichen Raum. Der Ruf nach Verboten wie dem Rauchverbot oder dem jüngst diskutierten Alkoholverbot im ÖPNV und in Stadtgärten komme, so der Autor Jens Jessen von Leuten, die anderen nicht gönnen, was sie sich selbst verbieten.

Eine solche Ansicht ist nicht viel besser als der sture Zynismus, mit dem Raucher verkünden, es störe sie ja auch nicht, wenn andere Leute nicht rauchen. Sie ist verwandt mit dem Selbstbewußtsein von Leuten, die erst Lärm machen und einen dann auch auffordern, woanders hinzugehen, wenn man seinem Unmut über den Lärm Ausdruck verleiht.

Worum geht es nämlich? Um nichts anderes als den Primat der Störung. Wer den um Ruhe bittenden mit dem Hinweis entläßt, er könne ja woanders hingehen, dreht das Verursacherprinzip um: Nicht derjenige ist jetzt für die Störung verantwortlich, der die Welt verändert (durch Rauch, durch Schall, durch Kotze), sondern der, der sich davon gestört und beeinträchtigt fühlt. Selbst schuld. Braucht sich ja keiner Gestört fühlen.

Als ob man sich dazu entschlösse! Wenn Jessen allen Ernstes behauptet, Nichtraucher mißgönnten Rauchern die Freiheit, die sie sich selbst nicht nehmen, so ist das ein Schlag ins Gesicht all derer, die freiwillig und ohne von einem Verbot gegängelt zu werden, Rücksicht nehmen und Zurückhaltung in ihren Lebensäußerungen üben. Diesen friedlichen und angenehmen Zeitgenossen zu unterstellen, sie treibe doch bloß der Neid der Gehemmten um, wenn sie nach Verboten riefen, ist eine Frechheit. Wer so schreibt, übersieht, daß es eine Not ist, die Verbote fordert, wo Rücksicht nicht mehr walten will. Man fragt sich, ob Herr Jessen jemals unter einem Geräusch oder einem unangenehmen Geruch gelitten hat. Vielleicht fährt er Auto und geht nie in ein Restaurant, man weiß es nicht. Der öffentliche Raum ist für alle da, eben darum, weil er öffentlich ist. Da ihn alle sich teilen müssen und ein Mensch dem anderen ohnehin schon eine Zumutung ist, ist es wichtig, daß man einander so wenig Reibeflächen wie möglich zukehrt und für ein Minimum an Exposition bietet. Dazu gehört nun einmal auch, niemandem Gerüche und Klänge aufzuzwingen, und also, nicht zu rauchen, regelmäßig Körperpflege zu betreiben und die Musik zu Hause zu hören. Das ständige Geklingel aus den ungezählten Kopfhörern, das mittlerweile schon zur normalen Klanglandschaft im ÖPNV gehört, ist für empfindliche Menschen so schwer zu ertragen wie für andere eine quietschende Tafelkreide. Der Verzicht auf eine halbe Stunde Musik ist dagegen schadlos und darf gefordert werden.

Einen Lebensstil zu leben ist in Ordnung. Andere, die den selben öffentlichen Raum mit einem teilen, zu unfreiwilligen Zeugen dieses Stils zu machen, ist rücksichtslos, unverschämt und dreist.

Wir brauchen nicht weniger Verbote, im Gegenteil. Wir brauchen noch viel mehr davon, im Maße nämlich die freiwillige Rücksichtnahme für altmodisch erachtet wird und ihre Rolle bei der Gestaltung eines friedlichen Miteinanders nicht mehr wahrnehmen kann.