Ce Pe, eine Begegnung

Und dann ist da wieder diese Stimme, die plötzlich als Du denkbar wird und auch so gedacht werden muß, nicht mehr nur als sie, die ehemalige Kollegin, die Wiederaufgetauchte, sie, die jetzt eben selbstvergessen und mit den Gedanken überall, nur sicher nicht bei mir, die Straßenbahn betritt.
Sie wird fremd bleiben. Die unverhoffte, nun schon zum vierten, fünften Mal wiederholte Begegnung ist eher dazu geeignet, mich mir selbst zu vergewissern, als ihr über das aufblühende Du hinaus näherzukommen. Erst im zweiten Gedankenschritt erkennt sich dieses Selbst, in einem anderen Blick erkannt, erkennend wieder, benamst findet es einen Namen und als Ich dieses Du. Dieses Gefühl: Man möchte was machen. Man möchte gemeinsam sich einem Stück Welt zuwenden und darin die Abdrücke, das Gekräusel, den Schatten des anderen überkreuz und wieder zurückgeführt zum Eigenen betrachten. Die Spuren und die wellenförmigen Spiegelungen, das wäre schön, die Interferenzen. Für eine kleine Weile, bis man wieder zurückgestoßen ins Alleinsein mit einem einzigen Augenpaar zurechtkommen muß, noch einen Zweitblick haben, einen gedoppelten Sinn für die Welt, ein paar Stündchen lang, die ihrerseits gedoppelt wären, da deine Zeit und meine ja zweifach zählte. Von ihrem Gesicht zur Sonne und wieder zurück. Da liefen Hunde im Park. Ein Drache stiege und fiele aufwärts in den Tümpel des Septemberblaus hinein. So viele Menschen, und sie, du, und das eigene Alleinsein, es wäre wunderbar aufgehoben bei ihr. Ich möchte mich selbst bei ihr abgeben. Bitte, nimm du ihn mal einen Nachmittag. Und mich dann dort, bei ihr, bei dir, einfach vergessen und nicht wieder abholen. Ich müßte auf nichts aufpassen, am allerwenigsten auf mich. Ich könnte mich ganz dem Staunen überlassen, daß du nicht ich bist, sondern ein anderer, und mit dieser anderdeinen Stimme zu mir sprichst und mit dieser wunderdeinen Stimme mich meinst.

Nerium

Unsichtbar im Dunkeln blüht der Oleander. Seine Kelche schwimmen in den Strömungen der Nacht. Durstig schlagen sich die Wurzeln in die Kübel der Träume. Von den Staubfäden weiß man nur, was tags sichtbar ist, Perspektive ist alles, die Nacht aber hat man weiß nicht wieviele Dimensionen. An den Überscheidungen schimmern die Petalen. Nyx, die schlafwandelnde Göttin, zerwürfelt die Wege mit links.

Noch einmal Nacht. Abgerungen den Glocken des Schlafs. Träume von Hunden und elegischen Distichen fallen dem Wachbewußtsein später wieder ein, da ist die Nacht ohne Halt von den Scheiben gerutscht. Vögel halten sich versteckt, die Kamine haben die Fäuste in den Taschen vergraben. Ein seltener Gott heißt Vergnügen. Die Sprache baumelt von einem buntbemalten Apfelbaum.
Zeit, Feuer zu machen und einen Topf mit Kieseln zum kochen aufzusetzen.

VIA NOVAESIANA 13.9.2011

Schreiben in den Spinnfäden des frühen Morgens. Schreiben gegen diese Spinnfäden. Schreiben und warten. Warten und denken. Das Haus ist still wie ein Tier. Wie nur schlafende Löwen still sein können, alle Kraft und Gefahr in die Träume aufgespult. Die Nacht hockt vor dem Fenster, ihre Klauen am Glas. Und die Worte wagen sich heraus wie schüchterne Mäuse. Wenn man nicht aufpaßt, sind sie gleich wieder futsch. Verhuscht in den Spalten der Müdigkeit.

Autofahrer

Einer der hartnäckigsten Irrtümer der Autofahrer besteht darin, anzunehmen, nur weil man einen Motor hat, müsse man auch überhall freie Fahrt haben.

Gestern ist einer von denen einem Hindernis auf der Straße ausweichend auf den Bürgersteig gerollt und hat mir fast den Fuß abgefahren. Einmal ist mir dasselbe mit einem Mofafahrer passiert, der auf dem Trottoir glaubte, bei einer Ampelstauung seinem Recht auf freie Fahrt Geltung verschaffen zu können. Auf meinem geharnischten Brüller,, er solle gefälligst die Fahrbahn nehmen kam die Antwort: “Das geht doch nicht, da ist doch Stau!”

Ich meine, wo sollen wir denn noch hin, als Fußgänger? Die Hauswand hoch? In den Gulli runter? In ein kosmisches Wurmloch kriechen? Quantentunneln? Am besten selbst ans Steuer: Es ist der Zuruf eines Autofahrers an einen Fahrradfahrer überliefert, warum der denn nicht Auto fahre “wie normale Leute”

Der Gehweg ist ja bereits ein letztes Reservat, das uns Fußgängern zähneknirschend zugestanden wird. Daraus kann uns offenbar jeder motorisierte Idiot vertreiben, wenn ihm die Straße nicht ausreicht. Denn: Stillstand ist der Tod. Alle Räder müssen rollen. Vorwärts Marsch!

Wir brauchen mehr Verbote

In der Ausgabe 36, 2011 der Wochenzeitung <i>Die Zeit</i> ging es im zweiten Leitartikel über die Zunahme von Verboten im öffentlichen Raum. Der Ruf nach Verboten wie dem Rauchverbot oder dem jüngst diskutierten Alkoholverbot im ÖPNV und in Stadtgärten komme, so der Autor Jens Jessen von Leuten, die anderen nicht gönnen, was sie sich selbst verbieten.

Eine solche Ansicht ist nicht viel besser als der sture Zynismus, mit dem Raucher verkünden, es störe sie ja auch nicht, wenn andere Leute nicht rauchen. Sie ist verwandt mit dem Selbstbewußtsein von Leuten, die erst Lärm machen und einen dann auch auffordern, woanders hinzugehen, wenn man seinem Unmut über den Lärm Ausdruck verleiht.

Worum geht es nämlich? Um nichts anderes als den Primat der Störung. Wer den um Ruhe bittenden mit dem Hinweis entläßt, er könne ja woanders hingehen, dreht das Verursacherprinzip um: Nicht derjenige ist jetzt für die Störung verantwortlich, der die Welt verändert (durch Rauch, durch Schall, durch Kotze), sondern der, der sich davon gestört und beeinträchtigt fühlt. Selbst schuld. Braucht sich ja keiner Gestört fühlen.

Als ob man sich dazu entschlösse! Wenn Jessen allen Ernstes behauptet, Nichtraucher mißgönnten Rauchern die Freiheit, die sie sich selbst nicht nehmen, so ist das ein Schlag ins Gesicht all derer, die freiwillig und ohne von einem Verbot gegängelt zu werden, Rücksicht nehmen und Zurückhaltung in ihren Lebensäußerungen üben. Diesen friedlichen und angenehmen Zeitgenossen zu unterstellen, sie treibe doch bloß der Neid der Gehemmten um, wenn sie nach Verboten riefen, ist eine Frechheit. Wer so schreibt, übersieht, daß es eine Not ist, die Verbote fordert, wo Rücksicht nicht mehr walten will. Man fragt sich, ob Herr Jessen jemals unter einem Geräusch oder einem unangenehmen Geruch gelitten hat. Vielleicht fährt er Auto und geht nie in ein Restaurant, man weiß es nicht. Der öffentliche Raum ist für alle da, eben darum, weil er öffentlich ist. Da ihn alle sich teilen müssen und ein Mensch dem anderen ohnehin schon eine Zumutung ist, ist es wichtig, daß man einander so wenig Reibeflächen wie möglich zukehrt und für ein Minimum an Exposition bietet. Dazu gehört nun einmal auch, niemandem Gerüche und Klänge aufzuzwingen, und also, nicht zu rauchen, regelmäßig Körperpflege zu betreiben und die Musik zu Hause zu hören. Das ständige Geklingel aus den ungezählten Kopfhörern, das mittlerweile schon zur normalen Klanglandschaft im ÖPNV gehört, ist für empfindliche Menschen so schwer zu ertragen wie für andere eine quietschende Tafelkreide. Der Verzicht auf eine halbe Stunde Musik ist dagegen schadlos und darf gefordert werden.

Einen Lebensstil zu leben ist in Ordnung. Andere, die den selben öffentlichen Raum mit einem teilen, zu unfreiwilligen Zeugen dieses Stils zu machen, ist rücksichtslos, unverschämt und dreist.

Wir brauchen nicht weniger Verbote, im Gegenteil. Wir brauchen noch viel mehr davon, im Maße nämlich die freiwillige Rücksichtnahme für altmodisch erachtet wird und ihre Rolle bei der Gestaltung eines friedlichen Miteinanders nicht mehr wahrnehmen kann.

Öööööööö!

Hööööööööööö!
Üüüö!
Hhhhhöü, höü. höööö!
Ü, ü.
Alles, was ich von hinter der Scheibe, blickauf aus dem Souterrain verstehe, sind gerundete Vokale. Die werfen sie sich zu wie Sportler im Wettkampf. Es ist nicht zu sagen, ob sie, hüo, hüo! ein Team bilden oder gegeneinander spielen, Üüüüüüüüüüüü! Öh, öhööhhöö! Zwischendrin klettern sie auch auf dem Gerüst herum, dann geht es öööööööhü! nach oben und aus einer Höhe, die mein Kopf im Nacken nicht mehr zuläßt, schallt es, etwas hohl zwischen den Wänden hin und her echoend, zurück, uuuuuuuuö!
Mal lauter, mal leise, mal fast ein rundvokalisches Gemurmel, murmumühür. Dann wieder klingt es, als müßten sie sich ÖÖÖÖÖÖääärrr! auf die Brust trommeln. Wer die Vokale mit dem größten Öffnungsgrad hinkriegt, darf vielleicht ein Weibchen decken, öh, öh, öh!
Oder ist es eine besondere, den schwierigen akustischen Bedingungen einer Baustelle angepaßte Phonation? Lassen sich Informationen so besser über Bauteile, -schluchten und -höhen hinweg übermitteln? Eine Art Pfeif- oder Trommelsprache im Land der Baustellen-Guanchen? Ai, aihaaai, macht jetzt einer, und ein anderer steht dabei und schüttelt den Kopf. Ein anderer Dialekt, ein Sprachfehler, oder einfach noch ungeübt? Öi, öhööööi, korrigiert einer, und von oben schallt es: Öh! Öhööööö!
Konsonanten kommen fast gar nicht vor. Allenfalls ein gerundetes Rrrrrrrrrö. Plosive scheinen gar nicht in Gebrauch zu sein. Vielleicht tragen solche Laute schlecht, weil sie von Pfeilern und Säulen und Streben abprallen und unterwegs akustisch zersplittern. Wer soll da noch eine Botschaft heraushören? Wichtig ist sicher der Tonfall, das Auf und Ab oder oft auch das Verharren auf einem hohen Ton. Manchmal hohl und brünstig, manchmal eher scharf und gepreßt (wie unter erbärmlicher Anstrengung bei Verstopfung), läßt es an die Zurufe und Pfiffe, das Johlen und Heulen in der Männerumkleide und -dusche eines Badehauses denken. Höööööööö! Höh, hö! Errrrrg!
Sogar das Gelächter ist gerundet, von männlichen rrrrrrrs und chchchchs durchsetzt, hör, hör, hör, hüchch, hüüühüühüch!
Und ein paar Minuten später pfeifen sie wirklich, und das Pfeifen folgt der selben Intonationskurve nach, die eben noch die gerundeten Vorderzungenvokale beschrieben haben. Vielleicht, denke ich mir, hängt das mit den Entfernungen zusammen. Auf ein paar Schritt: Üüüüö. Auf zehn oder mehr Meter: Pfiffe.
Wenn das nichts mehr hilft, müssen sie eben wieder zum Zeigen und Fuchteln, zum vokallosen Weisen und unrunden Winken übergehen.