Ich mache das jetzt seit 18 Jahren.
Man könnte meinen, man würde sich daran gewöhnen. Wenn die Zustände unverändert blieben, schwer zu ertragen, wie sie sind, wäre das vielleicht so. Aber sie bleiben nicht unverändert. Sie waren unerträglich genug. Und sie werden schlimmer. Die Rede ist vom öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV).
Als ich begann, ihn in dieser Gegend zu nutzen, gab es jede Stunde zwischen Bonn und Köln genau zwei (mit Verbundfahrkarten nutzbare) Nahverkehrszüge. Das waren quietschende, schaffnerpflichtige, mit allerlei Treppen und anderen Hindernissen („Barrieren“) bewehrte, von einer schnaufenden und ächzenden Lok mühsam gezogene Dinger, die nach Bremsgummi rochen, „Silberlinge“ hießen und aussahen wie aus Gußeisen gefertigt. Darin gab es eine Menge Sitzplätze, in die man sich hineinfallen lassen konnte wie in Großmutters Lieblingssessel, man konnte die Fenster öffnen, wenn es heiß war, und die Toiletten waren zwar nicht behindertengerecht, dafür aber nie außer Betrieb. Zwischen den Wagons mußte man über eine Brücke aus zwei aufeinander liegenden Stahlplatten steigen. In den Ritzen an der Seite flitzten Striche von Landschaft und Gleisschotter vorbei. Der Lärm war enorm. Man darf sagen, in der Hauptverkehrszeit waren diese Züge ziemlich ausgelastet, aber ich kann mich an keinen menschenmasseninduzierten Streß damals erinnern. Es ging halt. Stehen mußte ich fast nie, und wenn, dann war auch das Stehen noch bequem. Man konnte gelassen bleiben.
Seitdem sind viele Jahre ins Land gegangen. Mittlerweile gibt es überall moderne Niederflurbahnen mit „automatischer Türabfertigung“, die nicht nur den ehrwürdigen Arbeitsplatz eines Schaffners überflüssig machen, sondern außerdem behindertengerechte Toiletten haben, die nie funktionieren. Die automatische Abfertigung bedeutet, daß die Türen zu sind, wenn sie mal zu sind. Tritt ein ernsterer Schaden auf, müssen sie, statt wie früher den betroffenen Wagon, gleich einen halben Wagen abhängen, was häufig vorkommt und des Teufels ist. Dafür kann man jetzt mit dem Rollstuhl/Kinderwagen/Rollator direkt vom Gleis stufenfrei in den Wagen rollen, vorausgesetzt, man erwischt eine Tür, deren Elektronik nicht gerade wieder defekt ist. Statt Schaffner gibt es jetzt übrigens so eine Art Berggorillas1 in Uniform, die auf Provisionsbasis Schwarzfahrer abkassieren sollen, und deren Wortschatz aus drei Wörtern besteht: „Fahrkarte!“, „Ausweis dazu!“ und „Vierzsch Euro!“. Ich übertreibe natürlich. Die Uniform fehlt meistens.
Als die Dinger (die Niederflurzüge, nicht die Berggorillas) zuerst aufkamen, sahen sie so geräumig und gemütlich aus, daß man sich wunderte, warum plötzlich viel weniger Menschen Platz hatten als in den alten Zügen. Denn es war voll. Ein weiterer Zug pro Stunde wurde eingeführt. Und es wurde noch voller. Und noch voller. So voll, daß man nicht einmal mehr bequem stehen konnte. Man mußte froh sein, überhaupt ins Innere gelangt zu sein, aber richtig froh wurde man dann trotzdem nicht.
In der Zwischenzeit hatte ich meine Arbeitszeiten um eine Stunde nach hinten verschoben, um der rush hour auszuweichen. Das ging eine Weile gut. Der 9:01-Zug von Bonn Hauptbahnhof war so wenig besetzt, daß man immer einen Sitzplatz bekam, und zwar einen guten Sitzplatz, also einen ohne störende Nachbarn, ohne Zeitungsgeraschel, Laptop-Rumgeklapper oder Kopfhörerblech.
Doch nach ein paar Monaten war es damit vorbei. Sei es, daß die Arbeitszeiten flexibler wurden, sei es, daß die Bahn idiotischerweise ein besonders günstiges Ticket für die Zeit nach 9 Uhr wiedereingeführt hatte (so einen Unsinn gab es tatsächlich mal), oder vielleicht hatte das Schulministerium NRW eine Ausflugspflicht für Schulen beschlossen: Der Zug wurde jedenfalls voller und voller, bis das Niveau des 7:01- und des 8:01-Zuges erreicht war und seine Benutzung nicht mehr empfehlenswert schien. Wie die Verhältnisse inzwischen bei letztgenannten Zügen aussehen, wage ich mir nicht auszumalen.
Also wieder ausweichen, diesmal auf den 8:53er. Der hält an jeder Pißkanne und braucht 7 Minuten länger, aber lieber 7 Minuten länger fahren als 7 Minuten schneller viehtransportiert werden. Das ging bis vor einem halben Jahr gut, als plötzlich, eines schönen Frühherbsttages des Jahres ’10 die Fahrgastzahlen über Nacht in die Höhe gingen. Ich glaubte an etwas Vorübergehendes, eine jener unsäglichen, als „Messe“ bezeichneten, vom epidemieartigen Auftreten namensschildbewehrter Asiaten in Nadelstreifenanzügen begleiteten Massenveranstaltungen in Deutz, ein gastierendes Ensemble in der Köln-Arena, Monsterwochen® im Phantasialand (besonders für Schulklassen geeignet!) oder so etwas. Ich knirschte mit den Zähnen, übte mich in Geduld und hoffte, daß die Zahlen wieder zurückgingen. Aber die Zahlen gingen nicht zurück. Sie stiegen. Auch waren weit und breit keine Grüppchen schwarzgekleideter Asiaten mit Namensschildchen zu sehen (Schulklassen schon, gehäuft in den letzten drei Monaten vor den Sommerferien). Messe kam als – vorübergehende – Ursache also nicht in Betracht. Irgendwann war es mit dem Zähneknirschen so schlimm, daß mich eine Mitreisende anherrschte, was ich denn „für’n Problem hätte“. „Sie“, hätte ich zurückfauchen sollen, „Sie sind mein Problem. Daß Sie hier rumstehen und den Raum mit mir teilen wollen. Ihre Nähe. Ihre bloße Anwesenheit. Ihre Visage. Daß Sie den Bannkreis meines Territoriums berührt haben. Was haben Sie iegentlich vor 15 Jahren gemacht, als das Bahnfahren noch kein Massenphänomen war?“ Aber ich schwieg, knirschte mit dem, was an Zahnstümpfen noch übrig war und stieg bei der nächsten Station aus, um auf den Folgezug zu warten. (Der genauso voll war.)
Da die Lage mit den Wochen immer angespannter und schließlich unhaltbar geworden war, mußte eine andere Lösung her. Also wieder ausweichen, diesmal auf die Stadtbahnlinie 18. Die braucht zwar doppelt so lange wie der Zug, aber lieber, und so weiter.
Das ging jetzt zwei Monate gut.
Also: Entweder ich ziehe diese Dinge teleprotreptisch an, oder ich entdecke neue Verkehrswege immer just in dem Augenblick, in dem sie von allen anderen auch entdeckt werden. So wir der Fahrradständer vor dem Edeka, aber das ist eine andere Geschichte.
Weitere Ausweichmöglichkeiten sehe ich keine. Ein Auto kommt aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt ökologischen, nicht in Frage. Bleibt nur noch das Fahrrad. Dann bräuchte ich zwar bei gutem Wetter und Rückenwind doppelt solange wie mit der Stadtbahn und viermal so lange wie mit dem Zug, aber ich wäre an der frischen Luft, ich säße bequem und teilen müßte ich meinen Fahrradsattel auch mit keinem.
1 Ich entschuldige mich bei allen Berggorillas für den Vergleich.
Das muss man von klein auf gemacht haben, späte Einführung funktioniert vermutlich nicht. Aber bei diesem Wetter kann man es zumindestens mal versuchen mit dem Radeln zum Job.
REPLY:
Ich habe von klein auf immer alles mit dem Fahrrad gemacht, aber die Entfernungen waren moderat. Hier wären es hin- und zurück an die 60 km. Das ist viel. Man könnte zwar die Sache sportlich sehen und die Wege als Trainingseinheiten verbuchen. Dazu muß man aber bedenken, daß man auch wieder zurück fahren muß (das ist vor allem nach einem Arbeitstag, bei Gegenwind, Dunkelheit und schlechtem Wetter kein Spaß). Und dann ist Fahrradfahren nicht eben der Sport meiner Präferenz. Von Reifenpanne, Lichtausfall und Unfallgefahr mal ganz abgesehen.