Zahlen brachten den Schnee, geräumige Nummern, die Tage
Letzte Hunde von gestern, Abendgeläute. Von Tagen
Stillstehn. Im Ohr: das Eis. Wie es wächst, die mürben Kristalle
Zahlen brachten den Schnee, geräumige Nummern, die Tage
Letzte Hunde von gestern, Abendgeläute. Von Tagen
Stillstehn. Im Ohr: das Eis. Wie es wächst, die mürben Kristalle
Was wir unseren Kindern an Lieblosigkeit, Zeitmangel, Angst und Druck zumuten, das wird, denke ich, später mal auf uns zurückfallen, das kommt wieder, mittles jener Welt nämlich, die die von uns so Behandelten dann über uns verhängt haben werden, weil sie so geworden sind, wie wir sie in unserem marktrelevanten Denken geformt haben. Und wehe uns, wenn dann die Kriterien der Marktrelevanz auf uns angewendet werden – von denen, denen wir diese Denke eingetrichtern haben, als sie klein waren.
Ich empfinde eine tiefe Trauer darüber, was heutigen Kindern im Vergleich mit unserer eigenen Kindheit fehlt und stattdessen zugemutet wird; eine Trauer darüber, daß eine Kindheit, wie wir sie hatten, heute nicht mehr möglich ist. Was haben heutige Kinder, was uns fehlte? Das Internet, na ja.
Die Trauer über solchen Verlust paart sich mit einer heißen Wut auf jene, die mit allen möglichen Überlegungen, Maßnahmen, Entscheidungen, vorgeblich ganz im Dienst ihrer Kinder, genau diesen Verlust herbeigeführt haben. Entweder wollen diese Leute in Wahrheit gar nicht das Beste für ihre Kinder, oder unsere Vorstellungen darüber, was für Kinder das Beste ist, decken sich nicht ganz, um es vorsichtig zu formulieren. Man meint es vielleicht gut, aber was für eine Haltung zum Leben, welche Auffassung von Erziehung, ja was für eine Art von Beziehung zum eigenen Kind spricht aus einer Phrase wie „Kinder fit für den Markt machen“? So sportlich hat sich allen Ernstes mein Bruder in seiner Diplomarbeit ausgedrückt (und sich von mir einen dicken Rotstriftstrich dafür eingehandelt!). Ich weiß nicht, ob ihm klar war, was er da geschrieben hat. Mir bleibt bei so etwas die Spucke weg. Ich bin ein Idealist. Ich habe ganz bestimmte Vorstellung davon, wie ein gutes Leben aussieht und welche Rahmenbedingungen dafür nötig sind. Ob das realistisch ist oder auch nur von irgend einem anderen Menschen geteilt wird, ob es andere Menschen und ihre Bedürfnisse überhaupt einbezieht, spielt für meine Ansichten gar keine Rolle. Ich halte eine Kindheit, die zum größten Teil draußen stattfindet, im Wald, auf Wiesen, in Gärten, ohne Verkehr, ohne technisches Spielzeug, am besten ohne Fernseher, für das beste. Und werde fürchterlich kiebig, wenn mir jemand mit Realismus kommt. Realismus ist was für Leute, die aufgegeben haben.
Wir leben paradoxerweise in einer Gesellschaft, die sich zwar ständig Gedanken um ihre Kinder und ihr Wohlergehen macht – dabei aber zutiefst kinderfeindlich ist. Über Kindererziehung gibt es stapelweise Literatur. In Talkshows wird über sie gesprochen. In Zeitungsartikeln wird sie problemastisiert. An Universitäten diskutiert. Eltern belegen darin Kurse. Und im Fernsehen treten Supernannys auf und verbreiten die frohe Botschaft sachkundiger Padagogik. Über Erziehung wird gestritten und debattiert wie über kaum ein andres Thema. An Ideen und Gedanken herrscht kein Mangel. Woran Mangel herrscht: Kletterbäume, Wiesenränder, Bachläufe, Gärten. Worauf es ankäme: ein Iglu bauen, Himmel-und-Hölle-spielen, einen Bach aufstauen, sich auf eine Wiese legen, Tiere sehen. Macht sich eigentlich irgend jemand Gedanken, was Kinder wollen? Nicht, was gut für ihre Zukunft und die Gesellschaft ist, sondern was Kinder sich wünschen? Zum Beispiel Fußball spielen. Nicht in einem Verein, nicht beaufsichtigt von Trainern und Leistungsdiagnostikern und Sportpädagogen, nicht zur Föderung der Motorik und des Teamgeistes, nein. Nein, wild: einfach so, spontan, ungeplant, ausgelassen und auf der Straße.
Man sieht überhaupt keine spielenden Kinder mehr auf der Straße. Als ich jung war, hallte unsere Straße nachmittagelang wieder von Stimmen, Rollschuhen, Hockeyschlägern oder Holzschwertern. Das gibt es nicht mehr. Entweder es ist viel zu gefährlich. Oder die Kinder sind dabei zu laut. Oder es gibt zu viel Verkehr. Oder es gibt zuwenig – andere Kinder … Statt dessen sind Kinder heute in drei Sportvereinen gleichzeitig, nehmen am Malkurs teil und lernen Klavier und Fagott und Buchhaltung und Blindtippen, und müssen schon mit acht Jahren einen kleinen Terminkalender mit sich herumtragen. Oder besser gleich einen PDA. Wenn man mich fragt, gibt es zuviel Literatur über Kindererziehung, zuviel pädagogisch wertvolle Spielplätze und viel zu wenig echte Kletterbäume.
Und oft denke ich: Eine Welt nach den Bedürfnissen und Wünschen von Kindern wäre für uns alle eine bessere Welt. Wir brauchen alle weniger Autos und mehr Kletterbäume.
Daß der Becher immer bis zur Neige geleert werden muß, ich halte das für eins der größeren Hemnisse eines besseren Lebens. Der Verlust an Spielräumen umfaßt weit mehr als nur die Plünderung von endlichen Ressourcen, hat nicht allein ökologische Relevanz. Es ist ein Verhaltensmuster, das überall begegnet und neben materiellen Ausbeutungsverlusten auch einen inneren Verlust bedeutet: Den Verlust der Gelassenheit.
Jede neue Technologie stößt einen Handlungsraum auf, der stets bis in den letzten Winkel besetzt werden muß. Es genügt nicht, das Mobiltelephon bei Panne, Unfall und Gefahr zu benutzen, sondern die Möglichkeiten der allverfügbaren Kommunikation werden sämtlich geprüft und realisiert, von der Last-Minute-Verabredung bis zum Bussi vom Gipfel des Everest.
Wenn es doch schonmal da ist.
Und genau darum geht es. Es ist die ausbeuterische, versäumnispanische Mentalität des Wenn-es-doch-schonmal-da-Ist, die Spielräume, Reserven, Freistunden vernichtet und damit genau das unmöglich macht, was uns doch scheinbar so sehr am Herzen liegt: Das selbstbestimmte Handeln.
Oder ist es ein Zeichen von Eigenverfaßtheit, wenn ich ausnahmslos jede Möglichkeit einer Technologie nutze? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich, statt alles einmal ruhen zu lassen, immer an die Grenzen gehe und mir selbst keine anderen auferlege, als die Technik sie mir zieht? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich die Technik die Grenzen meiner Möglichkeiten bestimmen lasse? Handele ich selbstbestimmt, wenn ich auf einer Wanderung im schottischen Hochland nachts im Zelt liegend mobil nach Hause telephoniere? Oder unterwerfe ich mich da einem Zwang zum Tellerleeressen, zum Ausschöpfen aller Möglichkeiten?
Es mag harmlos sein, aber man darf vermuten, daß die Folgen solchen Ausschöpfens weiter reichen, als die Stille des schottischen Hochlands zu stören. Es gibt beispielsweise keine Straßen mehr, die ein lediglich latenten Bedürfnis, zwei Orte miteinander zu verbinden, befriedigt: Wo heute eine Straße ist, wird auch gefahren, und zwar ständig, als gäbe es den Zwang, dieses Streifchen Asphalt schon allein deshalb zu benutzen, weil es da ist. Das bedeutet nicht nur unmittelbar Lärm, Gestank und Aufmerksamkeitsforderung (durch die Gefahr, die von jedem rollenden Fahrzeug ausgeht); es bedeutet auch, daß die Straße als Lebensraum und Öffentlichkeit nicht mehr genutzt werden kann, weil ständig Verkehr herrscht. Es bedeutet, daß keine Kinder auf der Straße spielen. Und weil die Benutzung von Straßen den Bau weiterer Straßen nach sich zieht, bedeutet es eine allmähliche Verstraßung von Landschaft mit allen nervtötenden Folgen. Der Zwang zum Ausschöpfen beginnt im Kleinen und setzt sich im Großen fort. Gewinne zu machen ist schön. Aber es reicht nicht. Es muß nicht nur gewonnen werden, es muß so viel wie möglich gewonnen werden. Man nennt das Gewinnmaximierung. Die ihr zugrunde liegende Mentalität beginnt mit der Ruftaste des Mobiltelephons. Eine ausgefallene Verabredung muß sofort durch etwas anderes ersetzt werden. Und da das Mobiltelephon schnmal da ist, da könnte man doch …
Der Säufer muß den letzten Schluck aus der Flasche nehmen, auch wenn’s längst nicht mehr schmeckt. Und so ist es mit allem. Das Mobiltelephon ist immer mit dabei, es könnte ja was dazwischenkommen. Mit dem Auto erreicht man nicht schneller und bequemer zu Fuß erreichbarer Ziele, sondern der Radius des Erreichbaren wächst. Mit dem Auto kommt man schneller an Ziele, an die man vorher gar nicht gedacht hätte. Das Vorhandene wird nicht vereinfacht, sondern es nimmt zu, bis die Grenzen abermals erreicht sind. Brauchte ich eine Stunde mit dem Fahrrad, brauche ich jetzt immer noch eine Stunde, das Ziel ist aber dreimal so weit weg.
Immer an den Grenzen des Machbaren, ob es wünschenswert ist oder nicht: Wenn die Verfertigung eines Geschäftsbriefes statt früher eine halbe Stunde heute dank EDV-Anlage nur noch fünf Minuten benötigt, dann würde ein wahrer Zugewinn für Leben und Wohlbefinden darin liegen, die eingesparten fünfundzwanzig Minuten für die Lektüre eines guten Buches zu verwenden, oder sie bei einem gemütlichen Kaffee ganz gelassen zu verschwenden. Nicht zur Erhaltung der Arbeitskraft, nicht zum chillen oder networken, sondern einfach nur, um einen Kaffee zu trinken und sich zu freuen, daß das Leben schön ist. Das ist überhaupt etwas, das wir verlernt haben: Zeit zu verschwenden. Stattdessen schreiben wir in den gesparten fünfundzwanzig Minuten lieber sechs Briefe, haben nichts gespart und glauben auch noch, wir hätten einen gewaltigen Fortschritt gemacht. Umgekehrt bedeutet das zwanghafte Ausschöpfen des Möglichen eine Vervielfachung von Arbeitszeit. Weil es die Möglichkeiten gibt, müssen sie auch genutzt werden: Da ist es dann nicht mehr genug, einfach einen Brief zu schreiben, wie man ihn früher mit der Maschine geschrieben hat. Neue Technologie will eben ausgeschöpft sein, also müssen Fragen wie Schriftgröße, Schriftschnitt, Zeilenabstand, Einrückungen und weiß der Setzer nicht alles berücksichtigt werden, ehe man den ersten Buchstaben schreibt. Wer heute einen Geschäftsbrief schreiben will, braucht eine halbe Typographenausbildung. Nicht weil es komplizierter geworden wäre, einen Brief zu schreiben, das gerade nicht: Es ist einfacher geworden. Aber man man es sich nicht so einfach, wie es geworden ist. Sondern so kompliziert, wie es ein Ausreizen aller Möglichkeiten erfordert. Die Flasche will gelehrt sein, auch wenn’s nicht schmeckt.
Die besten Energiesparkonzepte bringen leider gar nichts, wenn man den Verbrauch anschließend so weit erhöht, wie er vor Einführung der Sparmaßnahme lag. Man läßt die Lampe länger brennen, weil man es sich leisten zu können glaubt. Es ist ja schließlich eine Energiesparlampe. Man fährt mehr und schneller Auto seit man einen geregelten Drei-Wege-Kat im 3-Liter-Wagen hat. Und dank Wärmedämmung hat man es jetzt bei 23 Grad Raumtemeperatur viel behaglicher als bei den gewohnten 20 Grad im unsanierten Altbau. Der Kühlschrank ist ein Energiespargerät, da drehe ich ihn doch gleich mal höher. Und mit der modernen Waschmaschine leiste ich mir vier Wäschen pro Woche, statt zu warten, bis die Trommel voll ist. Dummerweise funktioniert Energiesparen so nicht.
Ein Auto oder einen Computer für viel Geld erstanden zu haben, scheint für manche Leute absurde Folgen zu haben. Zur Mentalität des Wenn-es-schonmal-da-Ist kommt noch eine Logik hinzu, nach der ein teures Gerät möglichst oft benutzt werden muß, damit sich seine Anschaffung auch gelohnt habe. In einer schrecklichen Verdrehung von Ursache und Wirkung schafft so der Gegenstand seine eigenen Bedürfnisse, statt daß die Bedürfnisse zuvor nach dem Gegenstand verlangt hätten. Man geht täglich ins Schwimmbad, nicht, weil man es möchte, sondern damit sich die Jahreskarte lohne. Nicht, ob sich das Auto bei den bestehenden Bedürfnissen und Gewohnheiten lohnt, fragt man sich, sondern man schafft es an und fährt danach herum, als gelte es das Leben.
Was wäre selbstbestimmt? Das Auto stehenlassen, einmal schweigen statt reden, Zeit verschwenden, zu Fuß gehen, einen Termin versäumen. Kaffee trinken, ein Schwätzchen halten und sich freuen, daß man auf einem Planeten lebt, auf dem es Schokolade gibt. Verzichten; und dabei gewinnen. Gewinnen an Ruhe, an Gelassenheit, an Selbstbestimmung. Selbstbestimmt die Technik nutzen, das wäre: Mindestens die Prüfung der eigenen Bedürfnisse. Dann, das Erworbene in den Dienst dieser Bedürfnisse zu stellen. Und alles weitere gelassen zu ignorieren.