Einen Marathon laufen, den Everest besteigen, die Wüste Gobi zu Fuß durchqueren, mit dem Tretboot über den Atlantik fahren – kein Gespräch über diese und ähnliche Unternehmungen, ohne daß die Frage aufkäme: Warum machen die das?
So auch neulich beim Kaffee mit Eltern und einer Freundin meiner Mutter, wir sprachen über mein Steckenpferd, und natürlich, warum mache ich das?
Klar, für den, der das nicht kennt, nicht gemacht, nicht erlebt und nicht geschafft hat, mag es höchst fragwürdig scheinen, warum man sich das antut. Zweiundvierzigkommaeinsneunfünf Kilometer in einem Stück laufen. Das bedeutet vor allem: Trainieren. Zweitens bedeutet es Training. Und Drittens klingt es wie Selbstkasteiung: Im Winter bei Regen und Schneematsch, im Sommer bei Hitze durch den Wald rennen, morgens zwei Portionen Müsli in sich hineinstopfen, damit man auf genügend Kalorien kommt, literweise Wasser trinken, nur um es grad wieder auszuschwitzen. Trainingspläne, die keine Ausrede erlauben. Tempoläufe und langsame Läufe, weite Läufe, kurze Läufe, Läufe morgens um sechs oder nachts um zehn, wenn’s nicht anders geht, dreimal die Woche, viermal die Woche, 200 Kilometer plus im Monat abspulen – nur um dann hunderzweiundzwanzigster von über 200 zu werden und mit Achundkrach bei 3:45 über die Ziellinie, nein, nicht zu laufen, wanken wäre das bessere Wort.
Der läuferische Erfolg im Wettkampf, wenn nicht Erster, so doch wenigestens Zweiter, von mir aus auch Dritter werden, das würde wohl die Strapazen nach außen rechtfertigen, hätte Bestand vor der Welt. Aber unter tausenden irgendwo als Herr Unbekannt, im Wortsinne unter „ferner liefen“, grandios unbeachtet und grandios erschöpft gegen sich selber kämpfend die Strecke zu bewältigen? Was soll’s?
Meine eigene persönlich Antwort auf diese Frage ist knapp. Sie lautet: Weil ich es kann. Aber darum soll es gar nicht gehen.
Sondern um eine beiläufig gemachte Bemerkung von A. Manche Männer, so die weltläufige Auskunft A.s, bekämen ja so im Alter zwischen vierzig und fünzig einen Rappel, früher super sportlich, seit Jahren nix mehr gemacht, der Bauchansatz unverkennbar vorhanden, der Optiker droht mit der Lesbrille, wollten sie es noch einmal richtig wissen, sich und anderen beweisen, daß sie noch knackig und jung seien und keinesfalls auf dem absteigenden Ast.
Das ärgerte mich.
Als erstes die Präsupposition, sehr wohl seien diese plötzlich so agilen Männer auf dem absteigenden Ast. Sie wollten es nur nicht wahrhaben. Dann: Ich befinde mich zwar erst an der Untergrenze zu dem von A. erwähnten Alter, aber es trifft trotzdem, und es wird mich in Zukunft noch mehr angehen, und vielleicht wird demnächst diese Vermutung auch von anderen geäußert werden, dann aber – nicht so wie bei A., die es eher allgemein dahergesagt hatte – in Bezug auf mich.
Warum ist das ärgerlich? Es klingt nach dem Vorwurf einer unlauteren Begründung, dem Auf-den-Kopf-Zusagen einer Selbsttäuschung.Es macht die marathonbegeisterten Männer zwischen vierzig und fünfzig klein, indem es diese Bemühungen in dieselbe Schublade einsortiert wie der Griff zu Haarwuchsmitteln oder die Zuflucht zum Comb-over: Es entwertet sie. Es macht ihre Ambitionen lächerlich und spricht ihnen ab, überhaupt ernstzunehmende Ambitionen zu sein. Denn für die Nichtläufer kann es ja nur einen ernstzunehmenden Grund geben, die Quälerei auf sich zu nehmen, nämlich den Sieg, den objektiven sportlichen Erfolg. Wir reden hier schließlich nicht vom Spaß.
Die Bemerkung glaubt also schon, einen Grund zu kennen und läßt diesen Grund zudem nicht gelten. Sie befindet darüber, welches ein richtiger Grund sei und welches nicht. Das ist ein bißchen wie der nervtötende Satz von Hobbypsychologen, da stecke doch mehr dahinter – als kämen sie einem bei einer Betrügerei auf die Schliche. Auf die Schliche glaubt man aber auch mir zu kommen, insofern wenigstens, als dieselbe Begründungsmaschine auch auf mich angewendet werden kann, es reicht, daß auch ich die „richtige“ Begründung (den Sieg) schuldig bleiben muß. Insofern steckt also auch bei mir mehr dahinter, darf man also Mutmaßungen über mein geknicktes Selbstwertgefühl oder meine Angst vor dem Altern und Abbauen (und wer, bitteschön, hätte die nicht?) anstellen. Und weiter noch: Auch ich lasse mich dann hübsch passend in eine Schublade einsortieren, aus denen mich kein Dementi mehr herauswinden kann. Man glaubt, nur weil ich ein bestimmtes Alter habe und ein bestimmtes Geschlecht, mich schon zu kennen. Da könnte ich mir dann den Mund fusselig reden, geglaubt wird es nicht. Schon deshalb nicht, weil alles, was man vorbringen könnte („Ich benutze Haarwasser nur für die Kopfhaut“, „Ich wende das Comb-over an, weil ich es chic finde“, „Ich benutze Kontaktlinsen nicht, weil ich eitel bin, sondern weil man verzerrungsfrei sieht“, „Ich laufe Marathon, weil ich es kann“) wie eine Rechtfertigung klingt; ebenso wie die Vermutung, das sei alles der Midlife Crisis (schon das Wort ist eine Beleididung) geschuldet, immer einen versteckten Angriff enthält.
Zu ändern ist das nicht, eine griffige Entgegnung gibt es nicht. Es bleibt nur, über den Dingen zu stehen, selbst für sich zu entscheiden, was man tut und warum, und achselzuckend zur zweiten Portion Müsli zu greifen.
Ich mach es nicht, weil ich es nicht kann (scheint mir als Motiv nachvollziehbarer, als etwas zu machen, was man kann, aber nicht tun muss).