„Setzen Sie sich doch woandershin, wenn Sie mein Telephonieren stört.“
Schon in der bloßen Tatsache seines Geäußertwerdens Entrüstung hervorrufend, ist dieser Satz erst recht dann eine Unverschämtheit, wenn man vermuten muß, daß der, der ihn äußert, in totaler Verkennung sowohl der Regeln gepflegten Miteinanders als auch der Bedürfnisse und Empfindlichkeiten der Mitmenschen ihn tatsächlich auch so meint – und sich darüber im Recht wähnt, einem absonderlichen Recht, stören zu dürfen, wen und wann immer man will.
„Setzen Sie sich doch woanders hin.“ Das dreht alles auf den Kopf, was man über das subtile Arrangement, das Menschen miteinander treffen, um die aufgezwungene Nähe zueinander im öffentlichen Raum einigermaßen erträglich zu halten, aufzuzählen nur imstande wäre: Nämlich jenes Arrangement, das man Rücksichtnahme nennt, und zu dessen Grundsätzen eben auch zählt, was man als das Verursacherprinzip bezeichnen könnte: Nicht, wer sich gestört fühlt, trägt die Verantwortung für die Spannung einer Situation, sondern derjenige, der bereit ist, andere zu stören, und sei es auch nur unwissentlich.
„Setzen Sie sich doch woanders hin“ bedeutet: Es ist mir egal, daß Sie sich gestört fühlen. Sehen Sie zu, wie Sie damit fertig werden, daß ich Sie störe. Wenn es Sie stört, dann deshalb, weil Sie sich gestört fühlen. Folglich ist das Ihr Problem, nicht meines.
Möglicherweise fällt dann auch noch der im Zuge der Nichtraucherdebatte bekannt gewordene zynische Satz: „Es stört mich ja auch nicht, wenn Sie schweigen“. Und das ist dann die endgültige Absage an jede Form zivilisierten Umgangs. Es ist zynisch, falsch und unverschämt und mißachtet wissentlich und in vollem Bewußtsein der eigenen Frechheit, daß eine Ursache und das Fehlen einer Ursache keinesfalls äquivalent sind. Man kann sich nicht von einem Nichtsein gestört fühlen. Es sind viel mehr Dinge nicht, als daß Dinge sind. Darunter müßte es, der frechen Logik der unbeirrten Störer zufolge, ja unzählige Dinge geben, die durch ihre Abwesenheit stören. Welche mögen dies sein? Wer so auftritt, so in völliger Überzeugung der eigenen Unangreifbarkeit, hat jede Einsicht in Argument und Arrangement abgelegt. Schlimm genug, wenn einer in solcher Situation sich noch auf irgend ein Recht glaubt berufen zu können (als ginge es hier um Recht! Oder als bedürfe auch noch der letzte zwischenmenschliche Umgang einer behördlichen oder richterlichen Regelung) und sogleich lautstark anfängt zu krähen, er dürfe aber hier stören. Wer solcherart kräht, der verkennt, daß nicht alles, was man darf, auch jederzeit eine gute Idee ist. Auch der, der gestört wird, kann sich ja auf kein Recht berufen. Wenn er überhaupt wagt, den Mund aufzumachen, dann nur in Form eines Appells: Nämlich an die rücksichtnehmende Einsicht seiner Zeitgenossen, die ihrerseits vielleicht auch einmal auf ein solches Gewähren und Nachgeben angewiesen sein werden.
Nun läßt sich natürlich die Situation auch von der Warte des Telephonierers deuten und sein Beharren als Appell auffassen, nämlich an die wohlmeindende Rücksicht der anderen Fahrgäste, die ihrerseits vielleicht auch einmal in die Lage geraten werden, ein Gespräch führen (und damit andere stören) zu müssen oder zu wollen. Es ist wie beim Autofahren: Lärm, Gestank, Behinderung, Gefahr, Zupflasterung und Zerschneidung der Landschaft – alles das wird stillschweigend toleriert, weil (aber nur solange!) eine große Mehrheit der Menschen selbst Auto fahren will, und damit die Nachteile, weil sie sie selbst mit verursacht, in Kauf zu nehmen bereit ist. Schwierig wird es nur für diejenigen, die den Vorteil (Autofahren, Telephonieren) nicht nutzen – denn ihnen wird trotzdem ihr voller Anteil an den Nachteilen (Lärm, Gestank, die Unruhe fremder Gespräche) zugemutet.
Dies war nun schon das zweite Mal innerhalb von vierzehn Tagen, daß mir dieses Erwiderungsmuster („Gehen Sie doch woanders hin!“) begegnet. Wer dann woanders hingegangen ist, war weder die Telephoniererin noch die Beschwerdeführerin, sondern ich. Auseinandersetzungen dieser Art ertrage ich nicht einmal als Zeuge.
Monat: Oktober 2010
Paul-Schallück-Straße
Das läuft neben mir her, ein anderer, ein Deuter vielleicht, oder einfach nur ein Reflex, der entsteht, wenn Erinnerungen und Gedanken interferentielle Brechungen erzeugen. Dann wieder bin ich selbst für Augenblicksbruchteile dieser andere. Es ist ein Schweben zwischen Zeit und Identität, oder besser: Zwischen verschiedenen Stufen oder Schichten oder Schnitten derselben Identität, in Überbrückung und Überlagerung ihrer Zeitlichkeit, ihrer verschiedenen Zeitflächen und -brüchen. Ein Auslöser ist das jahreszeitliche Konzentration typischer Eigenschaften von Luft, Wind und Licht, Laub, Nässe oder auch Geräusch, ein Zusammenkommen, das sich ja nie durchhält über eine Jahreszeit, aber, für jeden je auf andere Weise, durch Vorkommnisse, bestimmte Wege oder Handlungen, Gespräche, kurz durch die ihm eigene Historizität eines gegebenen Zeitpunktes definiert ist und aus dieser Konstellation seine Kraft erhält.
Dies geschieht vermittels dieses changierenden Begleiters, der mal ich ist, mal bin ich er. Ich gehe diese Schritte noch einmal und es kann durch diese Vermittlung geschehen, daß ich sogar in alte Gedanken von mir ein zweites mal hineinspähen kann wie in eine alte, liebevoll restaurierte Tonbandaufnahme; die lichtschwache Daguerreotypie der Vorgänge, die unwiderrufbar den Wachzustand des Geistes durcheilen, mal bewußter, mal weniger bewußt.
Es ist ein Weg, den ich nicht so oft gehe, daß es sich abnutzen würde, daß er sich mit neuem vollsaugen und dann als Auslöser für mächtige Erinnerungsklarheiten nicht mehr zur Verfügung stehen könnte. In ebensolcher Weise vermeide ich das allzu häufige An- und Nachhören bestimmter Musik, mitunter habe ich seit Jahrzehnten ganz darauf verzichtet, aus Angst, die Macht der Klänge könnte sich verlieren, ihre Anbindung an einen ganz bestimmten Augenblick oder eine bestimmte Periode meines Lebens könnte sich lockern. Freilich bedeutet das, daß ich auch nicht mehr die bewußte Herbeiführung eines Erinnerungsblitzes praktiziere, mithin die konservierte Musik nie zur Wirkung gelangen kann. Insofern das, was sie auslösen könnte, schmerzlich ist, muß man sich ja fragen, warum auch? Aber alle Erinnerung, die wir auf solche Weise in Geruch oder Klang eingefangen haben und halten wollen, ist schmerzlich, sonst bräuchten wir eine solche Handhabe gar nicht. Was solchermaßen bewahrt wird, handelt immer von einem Verlust.
Um kurz vor fünf wachgeworden
Um kurz vor fünf aufgewacht. sofort gehört, daß die toilettenlüftung der nachbarn wieder lief … fünf minuten …. zehn minuten … dieses unerträgliche geräusch, das einem jede nervenfaserwegfrißt, bis alles in einem drin aus quälendem geheul besteht. eine viertel- oder eine gefühlte halbe stunde, ich weiß nicht wie lange, jedenfalls lang genug, daß ich vor wut und hilflosigkeit vollends wach wurde, jegliche schläfrigkeit verschwand und ich dann bis weit nach fünf uhr nicht mehr einschlafen konnte. So wurde dann auch aus dem beabsichtigten frühaufstehen nichts und geschafft habe ich in folge dessen auch nicht allzu viel.
Was mich dabei am meisten ärgert: ich habe das problem vor ein paar wochen endlich angesprochen und dabei auch besonders betont, wie störend das geheul gerade nachts für mich ist. Das heißt, sie wissen, wie es mir damit geht – und scheuen sich in vollem bewußtsein dessen nicht im geringsten, nachts das licht anzumachen. Es ist ihnen grad egal. Sowenig ist es ihnen wert, einen zufriedenen nachbarn zu haben, es wäre ja eine ganz kleine sache, ein leicht zu behebendes ding, einfach nachts (wenigstens nachts) das an die lüftung gekoppelte licht nicht anzumachen. Ich an ihrer stelle würde ja schon allein deswegen eine alternative lichtquelle benutzen, weil mir die vorstellung, nebenan liegt einer wach, ist wütend und lauscht, höchst unangenehm wäre. Aber manche menschen haben eben die dickfelligkeit eines bisons und sind auch ungefähr ebenso rücksichtsvoll.
Ich bin versucht, gleich mal wieder nach immobilien zu suchen und schonmal kartons einzusammeln. Ich verlange nicht viel, weißgott nicht. Ich wäre sogar bereit, auf noch mehr zu verzichten. Aber ich will es endlich so behaglich haben, wie ich es brauche und wie es meinen vorstellungen entspricht. Und das heißt in erster linie: stille. Und nicht nur nachts.
Bei solcher Witterung. 8:58
Bei solcher Witterung haben selbst die Blicke der Menschen im Zug etwas Nebliges, ja, Nebulöses an sich, versponnen, labyrinthfarben, nach innen gerichtet und doch die Umgebung im Blick, traumgefärbt vielleicht, als gäbe es da etwas, das uns, jene Frau und mich, die ich schon seit langem im Zug beobachte aus sicherer Distanz und der versteckten Warte beiläufiger Taxierung, das uns also schon von je verbindet, nur ich weiß es nicht, abgelenkt und verloren wie ich war an eine andere Erzählung, an ein anderes Licht. Die Felder eisgrau, ohne das Gewicht von Farben. Raben, die auf einen Acker niederfallen. Strommasten huschen lautlos vorbei. Der Blick sagt, hast du’s immer noch nicht verstanden? Und ein pastellenes Glänzen liegt da wie eine eingenistete Trauer in ihren Augen, ein Sog.
Sie verläßt vor mir den Zug, wobei sie mich mit diesem ballistischen Blick auffängt und gleich wieder fallenläßt, mit diesem knappen, zwischen Beachtung und beiläufigem Desinteresse schwankenden Streiflicht und Hast-du’s-noch-nicht, das Kinn ein wenig auf die Brust gesenkt, die Aufmerksamkeit jetzt auf die Lücke gerichtet zwischen Trittstufe und Bahnsteig, es ist eine Aufmerksamkeit, die ebenso beiläufig ist wie vorhin der Blick, und sich noch weitere Aufmerksam- und Beiläufigkeiten vorbehält. Ihre hohen Stiefel machen kleine Geräusche jetzt schon auf dem Bahnsteig, auf den angefeuchteten Steinen, Geräusch wie von solchen Schritten, die sich eine nächtliche Straße hinunter einsam entfernen, manchmal ein Holpern, wenn die Fußspitze beim Vorwärtsschwung noch einmal den Boden berührt, tänzerisch klingt das und elegant, klack klack kliklack, ihr violetter Mantel beginnt sich schon aufzulösen, das Haar glänzt wie von Kondenstropfen. Die Schultern spannen sich leicht, als wüßte sie mich vertrauensvoll hinter sich, wüßte meinen Blick auf ihr ruhen, der ihr auch wirklich folgt, wie sie, womöglich mit dem Bewußtsein, das ich sie nicht aus den Augen lasse, klack klack kliklack dem Treppenabsatz zur Dasselstraße zustrebt. Sie senkt den Fuß auf die erste Stufe, neigt ein bißchen den Kopf vor, vorichtig, hat ein Taschentuch hervorgezogen, schneuzt sich die Nase, schnieft, der Nebel, die Kälte, das Herbstzittern, ihre Gestalt schon eingetrübt, senken sich die Schultern auf der Treppe, bereits die einer Fremden in einer Menge weiterer Fremder, eine auf und ab wogende Isokephalie unter dem Stahlbogen, wo jetzt das feuchte Gleiten einer Taube den Stahlschatten des Bahnübergangs entkommt. Die Treppe saugt die Menge an sich, unten erklingt das sanfte Gekreisch einer bremsenden Straßenbahn, der Zug schickt zwei rote Rücklichter aus der Kurve zurück. Das Bahnhofsgelände hat sich geleert; eine Zigarettenkippe qualmt in der Nässe, ein Papiertaschentuch leuchtet weiß auf dem Perron, die Taube entfernt sich flügelklatschend und verschwindet in der Silhouette der Platanen, und als ich wieder zur Treppe sehe, wird sich die Fremde kein zweites Mal nach mir umgedreht haben.
Hello Wihn
In der Folge eines Eintrags bei Schreibman habe ich mich gefragt, ob es wohl auch irgendwo einen Aufkleber für halloweenfreie Zonen gibt. Ich finde, der Zirkus hat beängstigende Ausmaße angenommen. Habe neulich einem Schulkind eine Geschichte vorgelesen, in der Halloween in der Schule für eine Themenwoche taugte. Das ganze war so dargestellt, als wär’s von je ein deutsches Volksfest und müßte nicht erst erklärt werden, was es damit eigentlich auf sich hat.
Für die Kleinen bedeutet das ja, daß es nie anders war. Erschreckend. Kurz fragte mich, ob sie nicht wenigstens die Schreibung seltsam finden. Dann fiel mir ein, daß heute Englisch ja schon in der Grundschule unterrichtet wird (nichts gegen frühes Fremdsprachenlernen; aber man könnte auch gut Französisch oder Polnisch nehmen, schließlich sind das unsere Nachbarn, oder Türkisch, das wäre pragmatisch sinnvoller), und daß da ein weiteres merkwürdig geschriebenes Wort nicht weiter auffällt. Was aber denken sich Autoren, Lektoren und Verlage dabei, wenn sie so einen Mist schreiben? Womöglich, könnte man denken, soll hier der künftige Bürger schon einmal auf die kulturelle Hegemonie der USA eingestimmt werden. Wenn Kindern Halloween schon als völlig normal dargestellt und nicht im mindesten hinterfragt wird, glauben die noch tatsächlich, daß das hier schon immer so üblich war, sich das Gesicht anzuschwärzen und mit allerlei Pseudogrusel angetan um Süßigkeiten (oder, schlimmer, gleich um Geld) zu betteln.
Am Ende feiern wir alle noch Thanksgiving. Oder warum begehen wir nicht gleich den Unabhängigkeitstag? Ist doch egal, wer da von wem unabhängig wurde, Hauptsache, es gibt was zum saufen.
Bei uns gibt es das Märtensingen und die Sternsinger, und die gehören in Kindergeschichten, nicht irgendeine importierte, absurde Möchtegernfolklore.
Keine Stille, nirgends
Selbst wenn man sie einmal gefunden hätte, die Oase der Stille: Es wäre nichts gewonnen außer einer tagfürtäglichen Ruhe, einer Ruhe, die nur vorläufig ist, nicht einmal von Tag zu Tag, sondern sogar von Stunde zu Stunde, ja von Augenblick zu Augenblick, eine Ruhe ohne Be-ruhig-ung, denn Sicherheit gibt’s keine. Selbst nach Jahren kann das Geräuschgrauen wieder zuschlagen, nichts bleibt ja in dieser Welt, die sich blindlings allem neuen, und sei es noch so bescheuert, in die Arme wirft, nichts bleibt ja, wie’s einmal gewesen ist, nicht einmal das Treffliche, nicht einmal das, womit man hatte leidlich leben können.
Abgelegene Orte geraten in den Sog der sogenannten Zivilisation, strukturschwache Gegenden wollen leider nichts lieber als strukturstark werden, was im allgemeinen nicht ohne Geräusche abgeht; öde Landstriche werden plötzlich von Ökotouristen entdeckt und von Outdoorsportlern heimgesucht, die meinen, draußen zu Hause zu sein. Findige Billigfluganbieter greifen auf Flughäfen auf der grünen Wiese zurück, weil billiger, was den Fluglärm auf der grünen Wiese nicht unbedingt mindert. Umgehungsstraßen machen ihrem Namen Ehr’ und umgehen, leider nicht die Wildnis, sondern die Ballungsgebiete, die man hinsichtlich von Lärm und Krach sowieso nicht retten kann: Warum also, bitteschön, auch noch die Wildnis beschallen? Da baust du dir dein Haus weitab jeder motorisierter Zumutung, nur um nach zwei paradiesischen Jahren herauszufinden, daß eine neue Autobahn geplant ist, deren Trasse zweihundert Meter hinter deinen Apfelbäumchen verlaufen wird. Stille hört sich anders an.
Oder auch: Ruhige Mieter ziehen aus, weniger ruhige Mieter ziehen nach; nebenan wohnt plötzlich jemand, der Schlagzeug übt, während unter dir die stille Handarbeitslehrerin eines Tages beschließt, sich das Violoncellospiel anzueignen. Selbst für einen Liebhaber des Cellospiels sind die ersten Gehversuche eines Anfängers auf einem Streichinstrument meist kein reiner Hörgenuß.
Und noch weniger zu vermeiden: Die Natur des Lebens selbst. Irgendwann sind aus den liebreizenden Nachbarskindern nicht mehr ganz so liebreizende Teenagergören geworden, die ihrerseits den Liebreiz von Geräuschen entdecken, die du nie im Leben als Musik bezeichnet hättest. „Zimmerlautstärke ist, wenn ich drüben nichts mehr höre“, denkst du dir, fassungslos, daß das andere anders sehen.
Von Wohnung zu Wohnung, von Haus zu Haus: Schlagzeuger gegen Heavy-Metal-Fan eingetauscht. Von der Stadt aufs Dorf, Autoverkehr gegen Schützenvereinrumtata gehandelt. Vom Dorf aufs Land, Traktoren und Kreissägen statt Schützenvereinrumtata. Wohnwagen im Wald: Sonntags die Ausflügler. Nein, es gibt kein Entkommen. Und jeder Raum der Stille ist nur von Augenblick zu Augenblick still. Jederzeit kann der Krach losschlagen, überall. Es gibt keine Anti-Lärm-Lobby. Es gibt Nichtrauchergesetze, aber keine Anti-Lärm-Gesetze. Würde man über die schalldichte Isolierung von Wohnraum genauso intensiv nachdenken wie über Wärmedämmung oder neue Straßen für noch mehr Autos, könnten wir wenigstens auf eine bessere Zukunft hoffen. Aber wo kein Problem ist, da wird auch nicht über Lösungen diskutiert. „Sie stören mich mit Ihrem Schweigen ja auch nicht.“ Und so sind wir, die Lärmkranken, die Geräusch-kann-tödlich-sein-Fraktion, überall heimatlos, Vertriebene, Nomaden auf der Flucht vor dem Lärm der Zeitgenossen wie vor unserem eigenen Gehör.
Warum machen die das?
Einen Marathon laufen, den Everest besteigen, die Wüste Gobi zu Fuß durchqueren, mit dem Tretboot über den Atlantik fahren – kein Gespräch über diese und ähnliche Unternehmungen, ohne daß die Frage aufkäme: Warum machen die das?
So auch neulich beim Kaffee mit Eltern und einer Freundin meiner Mutter, wir sprachen über mein Steckenpferd, und natürlich, warum mache ich das?
Klar, für den, der das nicht kennt, nicht gemacht, nicht erlebt und nicht geschafft hat, mag es höchst fragwürdig scheinen, warum man sich das antut. Zweiundvierzigkommaeinsneunfünf Kilometer in einem Stück laufen. Das bedeutet vor allem: Trainieren. Zweitens bedeutet es Training. Und Drittens klingt es wie Selbstkasteiung: Im Winter bei Regen und Schneematsch, im Sommer bei Hitze durch den Wald rennen, morgens zwei Portionen Müsli in sich hineinstopfen, damit man auf genügend Kalorien kommt, literweise Wasser trinken, nur um es grad wieder auszuschwitzen. Trainingspläne, die keine Ausrede erlauben. Tempoläufe und langsame Läufe, weite Läufe, kurze Läufe, Läufe morgens um sechs oder nachts um zehn, wenn’s nicht anders geht, dreimal die Woche, viermal die Woche, 200 Kilometer plus im Monat abspulen – nur um dann hunderzweiundzwanzigster von über 200 zu werden und mit Achundkrach bei 3:45 über die Ziellinie, nein, nicht zu laufen, wanken wäre das bessere Wort.
Der läuferische Erfolg im Wettkampf, wenn nicht Erster, so doch wenigestens Zweiter, von mir aus auch Dritter werden, das würde wohl die Strapazen nach außen rechtfertigen, hätte Bestand vor der Welt. Aber unter tausenden irgendwo als Herr Unbekannt, im Wortsinne unter „ferner liefen“, grandios unbeachtet und grandios erschöpft gegen sich selber kämpfend die Strecke zu bewältigen? Was soll’s?
Meine eigene persönlich Antwort auf diese Frage ist knapp. Sie lautet: Weil ich es kann. Aber darum soll es gar nicht gehen.
Sondern um eine beiläufig gemachte Bemerkung von A. Manche Männer, so die weltläufige Auskunft A.s, bekämen ja so im Alter zwischen vierzig und fünzig einen Rappel, früher super sportlich, seit Jahren nix mehr gemacht, der Bauchansatz unverkennbar vorhanden, der Optiker droht mit der Lesbrille, wollten sie es noch einmal richtig wissen, sich und anderen beweisen, daß sie noch knackig und jung seien und keinesfalls auf dem absteigenden Ast.
Das ärgerte mich.
Als erstes die Präsupposition, sehr wohl seien diese plötzlich so agilen Männer auf dem absteigenden Ast. Sie wollten es nur nicht wahrhaben. Dann: Ich befinde mich zwar erst an der Untergrenze zu dem von A. erwähnten Alter, aber es trifft trotzdem, und es wird mich in Zukunft noch mehr angehen, und vielleicht wird demnächst diese Vermutung auch von anderen geäußert werden, dann aber – nicht so wie bei A., die es eher allgemein dahergesagt hatte – in Bezug auf mich.
Warum ist das ärgerlich? Es klingt nach dem Vorwurf einer unlauteren Begründung, dem Auf-den-Kopf-Zusagen einer Selbsttäuschung.Es macht die marathonbegeisterten Männer zwischen vierzig und fünfzig klein, indem es diese Bemühungen in dieselbe Schublade einsortiert wie der Griff zu Haarwuchsmitteln oder die Zuflucht zum Comb-over: Es entwertet sie. Es macht ihre Ambitionen lächerlich und spricht ihnen ab, überhaupt ernstzunehmende Ambitionen zu sein. Denn für die Nichtläufer kann es ja nur einen ernstzunehmenden Grund geben, die Quälerei auf sich zu nehmen, nämlich den Sieg, den objektiven sportlichen Erfolg. Wir reden hier schließlich nicht vom Spaß.
Die Bemerkung glaubt also schon, einen Grund zu kennen und läßt diesen Grund zudem nicht gelten. Sie befindet darüber, welches ein richtiger Grund sei und welches nicht. Das ist ein bißchen wie der nervtötende Satz von Hobbypsychologen, da stecke doch mehr dahinter – als kämen sie einem bei einer Betrügerei auf die Schliche. Auf die Schliche glaubt man aber auch mir zu kommen, insofern wenigstens, als dieselbe Begründungsmaschine auch auf mich angewendet werden kann, es reicht, daß auch ich die „richtige“ Begründung (den Sieg) schuldig bleiben muß. Insofern steckt also auch bei mir mehr dahinter, darf man also Mutmaßungen über mein geknicktes Selbstwertgefühl oder meine Angst vor dem Altern und Abbauen (und wer, bitteschön, hätte die nicht?) anstellen. Und weiter noch: Auch ich lasse mich dann hübsch passend in eine Schublade einsortieren, aus denen mich kein Dementi mehr herauswinden kann. Man glaubt, nur weil ich ein bestimmtes Alter habe und ein bestimmtes Geschlecht, mich schon zu kennen. Da könnte ich mir dann den Mund fusselig reden, geglaubt wird es nicht. Schon deshalb nicht, weil alles, was man vorbringen könnte („Ich benutze Haarwasser nur für die Kopfhaut“, „Ich wende das Comb-over an, weil ich es chic finde“, „Ich benutze Kontaktlinsen nicht, weil ich eitel bin, sondern weil man verzerrungsfrei sieht“, „Ich laufe Marathon, weil ich es kann“) wie eine Rechtfertigung klingt; ebenso wie die Vermutung, das sei alles der Midlife Crisis (schon das Wort ist eine Beleididung) geschuldet, immer einen versteckten Angriff enthält.
Zu ändern ist das nicht, eine griffige Entgegnung gibt es nicht. Es bleibt nur, über den Dingen zu stehen, selbst für sich zu entscheiden, was man tut und warum, und achselzuckend zur zweiten Portion Müsli zu greifen.
Sus scrofa
Schon seit Einbruch der Dunkelheit hatte ich sie gehört. Eingenistet in eine zunächst als ungefährlich empfundene Ferne (die gleichwohl die Art dieser Anwesenheit wenn nicht erkennen, so doch erraten ließ), wurden die Geräusche langsam lauter, ein Schnaufen und Scharren und Knacken und Rülpsen, dessen Urheber sich im Laufe der Nachtstunden langsam, mit mancherlei Vor und Zurück, aber im Ganzen doch immer mehr näherte, sich manchmal ins Halbbewußtsein des Schläfers schob, wieder daraus zurückwich und sich noch mehrmals in Erinnerung rief, jedesmal lauter, jedesmal ein bißchen näher, bis es ihn gänzlich weckte, und ihn, der anfangs, kurz nach Sonnenuntergang, sich vielleicht über die Natur des Geräuschs noch selbst hatte täuschen können, jedes Zweifels darüber, was da draußen rülpste und schmatzte und wühlte, behob.
Und dann ging’s los, sehr schnell, wie auf ein verabredetes Zeichen, wie, daß man nun lange genug vorsichtig gewesen, lange genug nur gespielt hatte, und nun entschlossen war, ernst zu machen. Galopp zahlreicher Hufe krachte auf einmal aus sehr naher Distanz durch den Wald, Zweige knackten, Laub raschelte, Steinchen schienen wegzuspringen, während es sich anhörte, als wälze sich da ein einziger schwerer Koloß durchs Unterholz, der sich zudem rasch, sehr rasch, als wollte er es niederwalzen, dem Zelt näherte.
Mit einem Satz aufrecht, zitternden Fingers den Zeltreißverschluß aufgerissen, mit der freien Hand schon nach dem eiskalten Hammer getastet. Der Reißverschluß klemmte, das Zelt wackelte, die Walze walzte. Stockend glitt der Reißverschluß nieder und ein Schlitz aus hellem Licht öffnete sich in der Zeltwand. Mondlicht ergoß sich über die Wiese. Schemenhaft standen davor die nächsten Bäume. Ohne Brille war alles nur ein schimmerndes Durcheinander, und während ich nach meinen Augengläsern suchte, zerfiel das Geräusch wieder in einzelne Laute, gliederten sich Trippeln und Scharren und Grunzen daraus ab, langsamer jetzt, zögerlicher. Ich setzte die Brille auf, der Mond schrumpfte zum Kreis, es war fast Vollmond, wolkenloser Himmel, und die Wiese lag jenseits der schmalen Baumreihe in einer Klarheit da, daß einzelne Halme im Licht schimmerten. Und noch etwas sah ich sofort, ich mußte nicht lange suchen und das Zelt nicht verlassen, weil sich der Eingang genau dorthin öffnete: Da waren sie. Jetzt passierte es mir auch einmal. Sie standen in unmittelbarer Nähe, am Rand der Wiese und vereinzelt zwischen den Bäumen, die Borsten im Mondlicht gesträubt, die Leiber glänzend und massig, aus der Perspektive des zu ebener Erde liegenden Zeltschläfers riesige Tiere, vier, fünf, acht, zehn, eine ganze Rotte: Wildschweine.
Es war, als beachteten sie mich nicht, als käme ich, ungeachtet des früheren Eindrucks, in ihren Plänen und Absichten, falls Wildschweine so etwas haben, gar nicht vor; als ignorierten sie mich, oder, wenn das überhaupt möglich war, als hätten sie mich in ihrem unergründlichen, auf anderes gerichteten Schweineeifer noch gar nicht bemerkt.
Daß letzteres wahrscheinlich zutraf, merkte ich ein paar Augenblicke später. Ratlos, was zu tun sei, ob überhaupt etwas zu tun sei, betrachtete ich die müßig herumstehende Rotte. Unter ihnen war ein Tier, das alle anderen weit überragte, furchterregend anzuschauen, dunkel, borstig, schemenhaft-muskulös und aus der Froschperspektive, am Boden liegend, groß wie ein Pferd.
Geschichten von Wanderern oder Spaziergängern, die sich unverhofft Wildschweinen gegenübergesehen und von ihnen attackiert worden seien, Meldungen von Gärtnern, die am hellichten Tag in ihrem lauschigen Schrebergärtlein ohne ersichtlichen Grund angefallen und verletzt worden seien, schossen mir durch den Kopf. Einem arglosen Wanderer hatte ein Keiler den ganzen Oberschenkel aufgeschlitzt. Von einem anderen hieß es, er habe sich in einen Müllcontainer retten können. Keine schönen Aussichten, selbst wenn es hier einen Müllcontainer gegeben hätte. Es war indes in diesen durchaus furchterregenden Geschichten immer nur die Rede von der Gefahr gewesen, die von einem Wildschwein ausgehen könne. Ich aber hatte ungefähr zwanzig Tiere vor mir, noch dazu eines, das groß wie ein Pferd war. Später las ich, Gruppen von mehr als zwanzig Tieren seien in Mitteleuropa sehr selten. Vielleicht doch nicht so selten, wie man bislang vermutet hatte. Der Umstand, daß ich mich nicht bei hellem Sonnenschein und in der Nähe menschlicher Siedlungen in einem Schrebergarten aufhielt, sondern nachts mutterseelenallein im Wald am Boden lag, mit nichts als einem Hammer und einer Packung Bio-Vollkornkekse bewaffnet, machte die Sache nicht besser.
Ich weiß nicht, was sie schließlich vertrieb, aber ihre Flucht war genauso unheimlich, wie ihr Herannahen. Ich hatte mein Feuerzeug herausgeholt, in der irrwitzigen Annahme, daß Tiere vor Feuer Angst haben müßten, hielt es ins Freie, zündete es und fragte mich, wie sich wohl der Eckzahn eines Keilers im Oberschenkel anfühlen mochte.
Es machte klick.
Und das war schon das Erschreckendste daran. Mag ja sein, daß Tiere, sogar Wildschweine, Angst vor dem Feuer haben. Vor dem Feuer, ja. Aber dieses fahle Flämmchen als Feuer zu bezeichnen, war bestenfalls leichtsinnig. Das Lichtlein war auf die Entfernung für die Schwarzkittel wahrscheinlich nicht einmal zu sehen, waren nicht Wildsauen sogar kurzsichtig? Und Furcht hätte es allenfalls einem Glühwürmchen einjagen können, und auch nur einem besonders furchtsamen. Natürlich hatte ich meine Stirnlampe vergessen. Klar. Die lag zu Hause in der Schreibtischschublade und war dort in diesem Moment nicht unbedingt von Nutzen.
Aber besser ein Feuerzeug in der Hand als eine Lampe in der Schublade, und wer weiß? Vielleicht hatten sie das Klicken der Feuerzeugmechanik doch gehört und sich von diesem ungewohnten, wenngleich sehr leisen Geräusch verwirren lassen, wer kann sagen, was in der empfindsamen Seele einer Wildsau vor sich geht? Vielleicht hatten sie auch die Bio-Vollkornkekse gewittert und Angst bekommen. Jedenfalls gab es plötzlich eine Bewegung, ausgehend von dem pferdegroßen Keiler, die im Nu auf die ganze Rotte übergriff: Die Leiber wirbelten herum und preschten im, naja, Schweinsgalopp ist hier wohl das beste Wort, davon, zurück in den Wald, panisch, ins Dickicht, wo alle zwanzig oder mehr Tiere innerhalb von Sekunden verschwunden waren.
Und ebenso schnell verstummte jedes Geräusch. Kein ersterbendes Galoppieren, kein Hufgetrappel aus den Weiten des Waldes, kein nachhallendes Grunzen irgendwo in der Ferne, kein Knacken von Zweigen, nichts. Von einem Atemzug zum nächsten war alles vorbei. Nicht einmal ein Blatt raschelte noch. Es herrschte Totenstille. Es war, als hockten sie nur wenige Schritte entfernt und warteten ab. Lauschten ihrerseits. Lauerten.
Vielleicht hockten sie da auch wirklich, aber sie haben sich die ganze spätere Nacht weder blicken lassen, noch auch nur einen kleinen Rülpser von sich gegeben. Es war, als hätten sie nie existiert. Am Morgen erstreckte sich der Wald licht und geräumig ums Zelt, Sonne spielte im Herbstlaub, der Grund schien unberührt, keine Tiere waren zu sehen, bis auf ein paar Pferde, die auf einer benachbarten Weide grasten.
„Und, hast du was Schönes erlebt?“ fragte mich K. anderntags.
„Ja“, sagte ich, „ich habe eine Rotte Wildschweine mit Bio-Vollkornkeksen in die Flucht geschlagen.“
Esther
Wie schon einmal grübele ich über einem Brief. Das letzte Mal quälte ich mich mit einer Antwort auf ihre so beiläufige, in aller Harmlosigkeit (und in einer Parenthese) eingestreute Offenbarung, das Wort ist bereits eine Übertreibung. Wie sollte ich es sagen, ohne es zu sagen? Ich habe Dir auch so manches nicht verraten, schrieb ich damals zurück, und daß ich es schade fände, daß ich sie damals unbedingt hatte beeindrucken wollen – und daß mir das auch noch gelungen sei. Deutlicher wurde ich nicht. Ich weiß nicht die richtigen Worte, schrieb sie zurück, Du gehörst zu meinem Leben.
Ich weiß nicht, was für eine Antwort ich erwartet hatte. Ich weiß nicht, was ich von dieser merkwürdigen Freundschaft in Zukunft erwarte. Ich weiß nicht, was ich mir verspreche, was ich hoffe, was ich mir versprechen und hoffen darf. Es gibt nichts nachzuholen, man kann nichts nachholen. Und es ist ja überhaupt die Frage, was nachzuholen wäre, wenn wir es denn könnten. Ich sage „wir“ und meine mich. Ich weiß nicht, wie es für sie ist. Ich weiß nicht einmal, was für eine Bedeutung Esthers damalige Parenthese hat, hatte, in jenem verschiegenen Sommern gehabt hat. Eine meiner Vorstellungen ist sehr kühn, sie sieht mich schon an ihrer Seite in H., in einer Gegenwart, die ich damals vorstellungsweise mit meinem Handeln bestimmt hätte. Ich wäre an jenem Abend näher an sie herangerückt, hätte mehr Mut gehabt, hätte unser Schweigen als Brücke aufgefaßt, als etwas, das ermöglicht, nicht als etwas, das zwischen uns steht. Ich hätte ihre Hand genommen, ein ermutigendes und zugleich bittendes oder fragendes Geräusch gemacht, und das wäre der Augenblick gewesen, der Angelpunkt, aus dem alles weitere geflossen wäre, und die ganze Zukunft, die jetzt nicht meine Gegenwart ist, wäre anders gewesen. Zusammen mit zwei Kindern in einem Haus in H., eine sehr kühne Vorstellung, denn das war ich damals nicht, es hätte nicht funktioniert, ich hätte das (oder auch nur die Vorläuferzeiten, das, was dorthin geführt hätte) nicht gewollt, ich hätte es nicht einmal gekonnt. Trotzdem ist da ein Schmerz, das Gefühl, etwas verloren zu haben, und sei es noch so imaginär.
Eine weit weniger gewagte Ausmalung der alternativen Zukunft-Vergangenheit-Gegenwart sieht so aus: Wir hätten damals, zwei erwachsene Menschen, die wissen, was sie tun und daß sie wollen, was sie tun, unsere gegenseitige Anziehung ernst genommen oder ihr nachgegeben, der Anziehung und der Neugier, und miteinander geschlafen, ein- oder vielleicht sogar mehrere Male, ohne daß daraus Folgen entstanden wären, weder schöne noch schlimme. Ich weiß, daß so etwas gutgehen kann, daß solche Beziehungen wieder beendet werden und zurückkehren können zu ihrer älteren Verfassung, und dabei dann noch eine große Bereicherung erfahren haben, ich habe das erlebt; es war nicht einfach, aber am Ende gut, sehr gut sogar, für beide.
Und das ist es, was nachholbar ist. Es ist möglich, und es bleibt möglich, solange wir leben. Es ist weiterhin und immer schenkbar. Denkbar ist es für mich immer gewesen, und diese Denkbarkeit hat jetzt vor dem Hintergrund jenes in Parenthese gemachten Geständnisses (unheimlich anziehend … als Mann) in Esthers vorletztem Brief eine neue, beunruhigende, auf Verwirklichung zielende Beweglichkeit erhalten.
Doch, ich weiß, was ich mir verspreche, ich weiß, was ich hoffe, was ich will. Es ist sehr einfach. Ich will mit Esther schlafen. Ich will jetzt nachholen, was wir uns damals versagt haben (oder wofür wir nicht mutig genug, nicht erwachsen genug gewesen sind, oder wovon wir geglaubt haben, es nicht zu dürfen, vielleicht, weil es unsere Freundschaft gefährden könnte; wofür wir nicht frei genug waren). Und eigentlich wäre es ja gar kein Nachholen. Es wäre einfach etwas, zu dem wir lange gezögert, und wofür wir uns jetzt endlich entschlossen hätten, weil wir genug innere Freiheit und Unabhängigkeit erlangt haben, und es würde sofort geschen, wenn auch Esther es wollte.
How can she ignore my available condition? geht mir ein Liedtext durch den Kopf. Und so ringe ich wieder mit einem Brief, mit einer Formulierung, die nichts ausspricht aber auch nichts verschweigt; suche nach Worten, die per Auslassung auf eine deutliche, unmißverständliche Weise aufscheinen lassen, was sie nicht ausschließen.
Esther
In dieser Phantasie beschäftigen mich als erstes ihre Socken. Es sind weiße, flauschige Socken, Frottée, oder Tennissocken, und in dem Moment, wo der Film einsetzt, trägt sie nicht viel mehr als diese. Aber darum, also um ihre unbedeckten Körperstellen, geht es zuerst gar nicht, es geht nur um ihre Füße in den weißen Socken. Diese Socken sind leuchtend weiß, sauber, frisch, aber getragen, nicht gerade angezogen, die ganze Situation ist die des umgekehrten Vorgangs, nicht des Anziehens, oder der Unterbrechung des Anziehens, sondern seines Gegenteils. Das meiste fehlt schon. Ich nehme an, sie trägt noch den Schlüpfer, über dessen Farbe, Material oder Beschaffenheit die Phantasie an diesem Punkt keine Aushünfte erteilt, sie verweilt bei den Socken, die, wie gesagt, sauber und frisch sind und doch etwas Gebrauchtes, etwas In-Anspruch-Genommenes an sich haben, das eine innige Verbindung zu ihrer Trägerin aufzeigt; sie sind kein zufälliger Fremdkörper, den man sich am Morgen überstreift und der zunächst auch fremd bleibt, unzugehörig, gewöhnugsbedürftig, wie auch er, der Gegenstand, die fremde Hülle, sich erst an uns, an die Trägerin, gewöhnen, sich ihr anverwandeln muß: Diese weißen nicht mehr ganz flauschigen Socken haben die Fremdheit überwunden und sich ihrer Trägerin bereits anverwandelt, und so sehen sie aus, so fühlen sie sich an (würden sich anfühlen, wenn man sie berühren würde), man merkt ihnen an, daß Esther sie getragen hat, einen langen Tag, eine lange Reise, daß sie über die Stunden dieses Tages hinweg, auf Bahnhöfen, in Zügen, auf Straßen, in einem Café, ein intimer Teil Esthers geworden sind, indem sie ihr so lange so nahe waren, daß sie Esther begleitet haben, daß Esther sie heute morgen mit einem bestimmten Gedanken (zu dem vielleicht auch ein Bild oder eine Vorahnung, wenn nicht sogar der Wunsch oder das Verlangen nach einer Situation gehört hat, wie die, in der sie sich jetzt mit mir befindet, nämlich, fast entblößt, nach Ablegen einiger Quadratzentimeter Stoff und mit der festen Absicht körperlicher Vereinigung, bald in den Zustand gänzlicher Nacktheit überzuwechseln), daß Esther sie also heute morgen mit solchen Gedanken oder unter anderem auch solchen Gedanken über ihre Füße gerollt hat und daß sie dann die ganze Zeit bei ihr waren, während Esther auf der langen Fahrt Zeit genug hatte, dieses und jenes zu denken, zu ahnen und zu wünschen, und daß sie die ganze Zeit diese weißen Socken trug, so lange, daß der Stoff ein bißchen ihren Geruch angenommen und damit etwas wie ein Fluidum von Esthers Existenz, ihrem Wesen, nicht allein als Körper, sondern auch als wünschendes und hoffendes Wesen, aufgesogen haben. Das beschäftigt mich sehr, wiewohl so etwas ja nur Sekunden dauert in der Realtität, wo wir es meist eilig haben, die Socken von den Füßen zu streifen (ich ihre Socken). Mich beschäftigt, wie Gegenstände, Kleidungsstücke zumal, etwas von der Person in sich aufnehmen, die sie trägt, ich meine nicht allein das offensichtliche, den Geruch, die Wärme, die Ausbeulung von Knöcheln und Gelenken (auch umgekehrt fasziniert mich der Eindruck, den Kleidung auf die Trägerin ausübt, die Rillen, Muster Streifen, Falten und Abdrücke von Strickmaschen auf der leicht geröteten warmen Haut), sondern auch in der Vorstellung, in der ideellen Verbindung, die der Stoff, das Gewebe, das Material mit Haut und Fleisch oder Haar eingegangen ist, einfach nur, indem diese unbelebte Materie der atmenden Haut so nahe war, daß sie fast eins geworden sind, bis zu dem Moment, wo sie sich in einem elektrisierenden Knistern wieder voneinander trennen, so wie jetzt, während ich in meiner Phantasie die Socken langsam von Esthers Füßen schäle.