Seneca Ep. II, 1, 3–5

Nimm trotzdem, wenn du magst, eine Hilfe an, mit der du dich wappnen kannst. Die Dinge, mein Lucilius, die uns Angst einjagen, sind zahlreicher als die, welche uns wirklich zusetzen, und oft quälen wir uns nicht der Tatsachen wegen, sondern aus bloßem Glauben. Ich spreche jetzt nicht zu dir mit der Stimme des Stoikers, sondern einer milderen; wir sagen ja, daß alles, was uns Stöhnen und Seufzen hervorruft, in Wahrheit leicht sei und verachtenswert. Lassen wir diese großen aber, ihr guten Götter!, wahren Worte einmal beiseite: Ich lege Dir nahe, dich nicht vor der Zeit zu grämen, da doch das, was du als bevorstehend fürchtest, vielleicht niemals eintreten wird, ganz sicher aber noch nicht eingetreten ist. Manches quält uns also mehr als nötig, manches quält uns früher als nötig, und manches quält uns ganz unnötigerweise; wir vergrößern den Schmerz oder nehmen ihn vorweg oder bilden ihn uns ein.

Tamen, si tibi videtur, accipe a me auxilia quibus munire te possis. [4] Plura sunt, Lucili, quae nos terrent quam quae premunt, et saepius opinione quam re laboramus. Non loquor tecum Stoica lingua, sed hac summissiore; nos enim dicimus omnia ista quae gemitus mugitusque exprimunt levia esse et contemnenda. Omittamus haec magna verba, sed, di boni, vera: illud tibi praecipio, ne sis miser ante tempus, cum illa quae velut imminentia expavisti fortasse numquam ventura sint, certe non venerint. [5] Quaedam ergo nos magis torquent quam debent, quaedam ante torquent quam debent, quaedam torquent cum omnino non debeant; aut augemus dolorem aut praecipimus aut fingimus.

Beim Laufen (Heimerzheim, Kottenforst)

gestern wieder im wald laufen, nur noch vereinzelt liegt eis, an wegkreuzungen und lichtungen, wo wegen der fehlenden baumkronen mehr schnee gefallen ist; aber es ist nicht mehr gefährlich, das eis ist mürbe, rauh, rissig und gibt unter den tritten bereits nach, man kommt ganz gut dran vorbei und dran vorüber.
zwar ist das meiste geschmolzen; dafür sind jetzt aber alle unbefestigten wege vom vielen schnee und jetzt durch dauerregen komplett durchgeweicht und verschlammt, der mehrmals gefrorene und wieder aufgetaute boden ist durch die ausdehnung des eingedrungenen und später gefrorenen wassers schwammig aufgedunsen und weich; überall steht das wasser in breiten pfützen, tümpel säumen die wege, raupenfahrzeuge, pferde und autos haben das übrige getan, um die meisten pfade in schlammpisten zu verwandeln, mit einem wort, der wald ist ein einziger sumpf. bis das drainiert und trocken ist, können wochen vergehen. ich bemerke an mir selbst eine merkwürdige gereiztheit, wenn das, was zunächst nur ein paar schritte über matsch schien, fünf schritte später immer noch matschig ist, hundert meter weiter keine besserung eintritt, nach hundert sich nichts geändert hat, bis man endlich mit vom lehm bereits schweren schuhen begreift: so geht es jetzt kilometerlang weiter, und sich der weg übers feld bis in die nebelige weite hinein von pfützen punktiert und von raupenketten gestriemt hinzieht. in solchen augenblicken könnte ich laut schreien vor zorn, und manchmal tu ich es auch.

Wie sehr …

… muß man sich eigentlich langweilen, daß man sich derart hartnäckig an diesem banalen Thema abarbeitet, als wär’s ein Rettungsring in einer See des ennui?

Seit zwei Wochen beschäftigt Hegemann jetzt die Feuilletons. Offensichtlich gibt es derzeit nichts Spannenderes. Möge jeder seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.

Camping Genienau

Was noch vor ein paar Tagen unbeholfener Versuch war, ein prüfendes, tastenden Stolpern ins Schneelicht des Morgens hinein (man konnte nicht sicher sein, ob man sich nicht verhört hatte), das ist sich, zumindest hier im Rheinland, seiner vergessen geglaubten früheren Virtuosität wieder bewußt geworden, hat den Dreh wieder raus; und so tönt es jetzt aus den Büschen und Bäumen, perlend, hell, kraftvoll und so stolz, als müßte es die Verspätung wieder wettmachen: Die ersten Buchfinken.
Ende Januar war es letztes Jahr schon soweit, in einem Waldstück voller Sonnensäulen und eiskalten Buchenrinden; in der ferne schwebte die Godesburg, angehoben von Licht, während tief unten der Sonntagnachmittagsverkehr blitzte.

Wege von und zu der alten Wohnung. Argelanderstraße. Fluchtgedanken, wirre Pläne von einem Neubeginn, vom Wohnen auf dem Campingplatz oder im Wohnmobil, Ärger auf Nachbarn und den ermüdenden Autoverkehr vor dem Küchenfenster. Ich weiß noch daß ich in jenen Tagen Campingplätze wegen eines Dauerstellplatzes angeschrieben habe, und einmal bin ich sogar runter nach Mehlem gefahren, um mir einen anzusehen, ein trostloses Stück Wiese mit vereinzelten moosüberwachsenen Campinganhängern darauf, wie Findlinge schief und geneigt, die Fenster verrammelt oder blind vor Staub. Die Schranke an der Einfahrt war heruntergelassen und mit einem Vorhängeschloß gesichert, Verbotsschilder, hier gilt die StVO, der Name „Genienau“ krümmte sich, gestützt auf zwei Pfähle, verwittert und unleserlich über den Weg, irgendwo ein Blechschild mit der Hausordnung. Unbefugten Zutritt verboten. Ich ging trotzdem hinein, besah mir die Anschläge und Plakate vor der Rezeption, drückte die Klinke, abgeschlossen, keine Klingel, keine Öffnungszeiten, in den Fenstern undurchdringliche Vorhänge. Ich sah nur mein eigenes ratloses Gesicht in den Scheiben. Auch die Türen der Sanitären Anlagen waren alle verriegelt. Nirgendwo auf dem Platz ein Mensch, in den Hecken eine Menge Spatzen, Möwen vom Rhein, nur draußen auf dem Feld ging eine einsame Frau mit Dackel.

Viel später erfuhr ich, daß das Wohnen im Campinganhänger in Deutschland nur unter strengsten Auflagen möglich sei. Was kann man auch anderes erwarten in einem Land, in dem Wartehäuschen mit einem Spalt für Zugluft versehen und Sitzgelegenheiten auf öffentlichen Plätzen und in Bahnhöfen so unbequem wie nur möglich gestaltet werden, damit nur ja keiner auf die Idee komme, sich dort hinzulegen?
Ich drehte noch eine Runde um das Gelände, stieg den Feldweg hoch zur Straße, fand die Hänge einladend und schön, kehrte zum Fluß zurück. Drüben der Drachenfels, sehr steil, das Schloß auf seinem Gipfel massiv und bedrohlich. Der Rhein hatte wenig Wasser und war braun, spiegellos, in den trockenen Kieseln lag eine milchig abgewetzte Wodkaflasche. Ich begriff, daß ich hier niemals wohnen würde. Nicht am Rhein, nicht in einem bemoosten Wohnwagen auf einem Platz ohne Dusche oder Waschbecken, nicht im Schatten des Drachenfelsschlosses, überhaupt nirgendwo. Traurig machte ich mich auf den Weg von dort, wo ich nicht wohnen würde nach dort, wo ich nicht mehr wohnen wollte.

An jenem Tag also der erste Buchfink. Vor ein paar Tagen bin ich dort auf einem Lauf von Rolandseck nach Hause wieder vorbeigekommen. Das Schloß noch höher, wackelig balancierte es knapp unter den Wolken, die Brombeeren ebenso braun wie vor einem Jahr, von den Wohnwagen fehlten die meisten. Aber die Sonne kam durch, viele Spaziergänger hatten die Hoffnung auf Frühling noch nicht aufgegeben, machten einen weiteren Versuch, und die Buchfinken hatten den Dreh endlich auch wieder raus.

Turdus merula

Und wie die jubelnde Erlösung, die endlich blitzartig die Spannung einer monatelang aufgefluteten, unerträglich gewordenen Stille und Starre löst und in Klang verwandelt, der, in der Dämmerstunde süß aus der Dunkelheit hervorquellend, den letzten, mürbe gewordenen Schlaf durchströmt, die Fensterferne heranholt, nah und näher, innig, ein Fordern, farbig und schalmeienklar, und wie aus dem feuchten Inneren einer hartschaligen Frucht ins Erwachen hinein: die erste Amsel.

Ich kann …

… es so langsam nicht mehr hören, wie sämtliche rezensenten oder solche, die sich dafür halten, auf Helene Hegemann rumhacken. als gäbe es kein fruchtbareres thema, wird blogauf blogab das ganze waffenarsenal von parodie bis polemik aufgefahren. man wünschte sich, die damen und herren würden so viel einfallsreichtum ihren hausaufgaben zukommen lassen. sucht euch endlich einen anderen wetzstein für eure stilistikübungen. wenn jetzt jeder rechtschaffene blogger nach allem, was schon gesagt und geschrieben worden ist, sich berufen fühlt, frau Hegemann auch noch in eigenem namen abzuurteilen, ist das so wie damals, als ein B. Kerner frau Eva Hermann eigens zu sich in die sendung lud, nur um sie höchst wirksam wieder rauswerfen und sich selbst zum moralischen retter der nation aufspielen zu können.
eure bissigkeit ist wohlfeil und kindisch.
ihr langweilt mich.

Zülpicher Börde

Wie der Hase in die blitzblanke Ebene hineinläuft, Halt sucht, wo kein Halten ist in der Leere, die als ein weißes Nichts allseits auf ihn zuschwimmt, wie er da hineinstürzt ins Kristallvielfache, panisch, kopflos, und stetig hineingesogen wird in eine kreiselnde Stille, wo kein Baum kein Strauch, nur weiß und weiß, und wie der Hase Haken schlagend dieser Masse an schierem Raum zu entkommen sucht, wie er vor der Wucht des Freiseins davonprescht, und wie er, während ihn die Ausdehnung erst langsam einkreist, ihm stets, wohin er sich auch wendet, zuvorkommt; sich dann um ihn legt, schon da ist, ihn niederzwingt; wie er da nach einem Ende sucht und sich aufbäumend vergebens in Raserei gerät, weil die Fläche für jede eingeschlagene Richtung unzählige weitere bereithält, während die Ferne, die langsam (denn sie hat Zeit) ihm entgegenstrebt, seine Flucht hemmt und mit ihm spielt, ihn hierhin und dorthin treibt, bis er ermattet einhält, wie er sich verzweifelt auf die Hinterläufe stellt, nichts zu sehen bekommt als weiße und aberweiße Strecken, so daß er, geschlagen fast, noch ein bißchen gegen den Strom weiterhumpelt, bis das Glitzern schließlich die letzte Bewegung des Tiers, nur mehr ein schwarzes Splitterchen, dessen punktförmiges Springen kaum noch auszumachen ist gegen die Helligkeit (ein Licht, das aus allen Richtungen zugleich kommt und jeden Schatten fortbrennt), wie das Glitzern das einfriert, und wie dann endlich weit draußen, im Davonstreben aller Linien, wo Wolken und Grund einswerden, das Feld einmal kurz blinzelt und den Splitter in sich verschwinden läßt –

Eis

bei uns ist es gerade so glatt, daß ich kaum heil über den supermarktparkplatz gelangt bin. vorhin hat es stark geschneit, und obwohl es über null grad sind, hat sich auf dem boden so eine interessante halbgefrorene schmiere gebildet. faszinierend. flocken, firn, flaum. schlunz, schmodder, matsch. weißer matsch, grauer matsch, schwarzer matsch, halbgefrorener matsch. schneewehen, schneeränder, schneekrusten. was für eine vielfalt an erscheinungen. besonders schön: braune pfützen, die gegen alle regeln der physik von unten und oben gleichzeitig zufrieren und eistümpel von geschätzt einem halben meter tiefe bilden. kein mensch würde da freiwillig reintreten. entzückend auch dieser hauchfeiner flaum frisch gefallene flöckchen, der tückisch sicherheit heischend panzerartig-festgebackenes, spiegelblankes, schlittschuhtaugliches eis verhüllt. auch nicht zu verachten: die keramikartig-harte masse, die sich bildet, wenn hunderte von stiefeln den abwechselnd tags auftauenden, nachts wieder festfrierenden schnee feststampfen, polieren und schließlich zu einer art volksbobbahn werden lassen. oder die erstaunlich gefährlichen eisplacken, die, mit salziger schlunze vermischt, ausgerechnet auf treppenstufen zu hause sind. von einem auto, das in eine pfütze brettert, auf dem gehweg mit einer sorbetartigen, graumelierten masse vollgespritzt zu werden, ist auch eine bemerkenswerte erfahrung. abschüssige feldwege, die tatsächlich als rodelbahn in gebrauch genommen werden, taugen gut für den einen oder anderen bein- oder knöchelbruch. da eiert man dann halt so rum auf feldwegen, die den namen “weg” nicht verdienen, über halbgefrorenes, angetautes, im schatten auch noch gletscherartig-hartes eis, und wo kein eis, da ist so ein halbgefrorenes gegriesel, ähnlich diesem grünen oder rosa zeug, das, in malautomaten emsig zerkleinert, in manchen erfrischungseinrichtungen angeboten wird. nur halt in graubraun und ohne zucker, und man kann herrlich reintreten und ohne weiteres bis zum knöchel versinken. schön auch ist schmelzwasser, das, gefangen zwischen zwei schichten eis, sich nicht entscheiden kann, ob es den rest auftauen oder selbst wieder zufrieren soll, und bis zur entscheidungsfindung den feldweg in einem bis weit ins feld ausbuchenden Tümpel komplett abriegelt. wenn man ausweicht, hat man natürlich sofort hübschen riesenklumpen lehm an den schuhen. alles ist naß, trieft, tropft, trauft, schmiert und schlabbert, taut auf, friert wieder, taut wieder auf. dort, wo man gerade noch gehen kann, ist natürlich die abflußschneise für all das wasser, so daß man dann wählen darf zwischen eismatsch und eiswasser. nicht zu vergessen die glasigen und unscheinbaren gletscherchen, die in irgendeiner schattigen ecke lauern, und einen ganz zuletzt, wenn man schon glaubt, den winter überstanden zu haben, doch noch zu fall bringen.
ich finde, wir haben jetzt allmählich alle arten und unarten von wasser in seinen festen und halbfesten aggregatszuständen durch.
es reicht.