Gestern fragte mich mein Nachhilfeschüler nach dem lateinischen Ausdruck für „kacken“. Seien wir nachsichtig, er ist 13, und man darf noch froh sein, daß er nicht nach solchen Vokabeln fragt, wie sie allenfalls in manchen Catullgedichten vorkommen. Nun ja. Ein bißchen in Verlegenheit, weil einem solche Ausdrücke nicht sofort auf der Zunge liegen, zumindest nicht auf Latein, erinnerte ich mich dann aber an einen gewissen Graffito aus Pompeji, in welchem davor gewarnt wird, an nämlicher Stelle zu urinieren oder, na ja, zu kacken eben. Nachdenklich macht dabei der in der Warnung zur Sprache kommende Ort des improvisierten Klos. Offenbar war der Hinweis nötig, daß es unfein ist, sich über Gräbern zu entleeren.
Man beachte, daß diese Lateinische Version eines Textes der heutigen Sorte „Hunde an der Leine führen“ oder „Rasen betreten verboten“ in Versen formuliert ist und aus zwei elegischen Distichen besteht. Damit orientiert sich der Text an der Form des Epigramms, das ursprünglich in Weih- und Grabinschriften verwendet, später aber auch mit dichterischer Intention für allerlei kritische, witzige und pointenreiche Gedichte in Gebrauch genommen wurde. Beispielsweise dieses kleine Epigramm vom wohl berühmtesten aller Epigrammatiker, Martial:
Esse nihil dicis quidquid petis, inprobe Cinna:
(III, 61)
„Es sei doch gar nichts, worum du mich bittest, sagst du, unverschämter Cinna: Na, wenn du mich um nichts bittest, dann schlage ich dir ja auch nichts ab.“
Gleichzeitig ist der Graffito eine Parodie auf den Inhalt des typischen Grabepigramms, indem es einen gängigen Topos aufgreift: die Verfluchung des Grabschänders. Nur daß hier die Nemesis darin besteht, daß den vorwitzige Notdurftverrichter Brennesseln an einer empfindlichen Stelle reizen mögen. Zum Vergleich ein Ausschnitt aus einer Art „echten“ Grabepigramms des Horaz (kein eigentliches Grabepigramm, aber der Fluchtopos ist der gleiche):
At tu, nauta, uagae ne parce malignus harenae
particulam dare: sic, quodcumque minabitur Eurus
plectantur siluae te sospite multaque merces,
ab Ioue Neptunoque sacri custode Tarenti.
postmodo te natis fraudem committere? Fors et
te maneant ipsum: precibus non linquar inultis
(carmina I, 28)
„Aber du, Seemann, zögere nicht boshaft, ein Körnchen des wehenden Sandes zu schenken: So sollst du heil bleiben, während, was auch immer der Eurus mit den Fluten Hesperiens vorhat, nur die Wälder Venusinas trifft, und reiche Ware, woher nur möglich, soll dir vom gerechten Jupiter und vom Wächter des heiligen Tarent, Neptun, zufließen. Willst du aber leichtfertig einen Frevel begehen, der deinen Kindern später schaden wird, die nichts dafür können? Vielleicht auch holt die verdiente Gerechtigkeit und die Rache für deinen Hochmut dich selber ein: Meine Bitten um Vergeltung werden nicht unerhört bleiben, dich aber werden keine Gebete erlösen.“
Hier aber nun sind es Brennesseln. Hohe Form für einen banalen Anlaß. Elegisches Distichon, tja. Unterhalb dessen griff der Lateiner erst gar nicht zur Feder. Man stelle sich vor, wie das wäre, wenn statt eines „Ballspiele untersagt“ ein mahnendes
Kinder, der Rasen ist schön, drum trampelt ihn nicht mit den Füßen
auf der grünen Tafel zu lesen wäre. Das elegische Distichon setzt sich im übrigen aus je einem (katalektischen) daktylischen Hexameter und einem daktylischen Pentameter zusammen. Letzteren kann man sich als aus zwei halben Hexametern bestehend denken, die jeweils an der Penthemimeres (nach fünf Halbfüßen) „abgeschnitten“ sind. Ein berühmtes Beispiel ist die Charakterisierung des elegischen Distichons von Schiller – in Form eines nämlichen Distichons, versteht sich:
Ím Hexámeter steígt des Spríngquells flü´ssige Säúle.
Was Matthias Claudius zu folgender Parodie inspirierte:
Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;
Die Forderung, im zweiten Halbvers des Pentameters keine Spondäen (Folgen von zwei langen Silben) zuzulassen, ist in dem Pißverbotsepigramm auch eingehalten.
Hier aber nun der Text:
Hospes adhuc tumuli ni meias ossa precantur.
Urticae monumenta vides. Discede, cacator !
Fremder, dich bitten die Knochen, doch nicht an die Gräber zu pinkeln.
Vor einem Denkmal voll Brennesseln stehst du, verschwinde, du Kacker!
Hier – in Zuneigung für die schönen Ausführungen zum Distichon – das pompejanische Zeugnis:
http://www.jstor.org/pss/20181201
Ergänzung zur Poetologie des Distichons:
Jeglicher Anfang ist schwierig. Die Ausnahme sind Epigramme.
Jeglicher Anfang ist leicht-Kummer und Qual macht der Schluss.
(Sinan Gudzevic)
REPLY:
Oh, vielen Dank für den Link! Und für dieses schöne Epigramm über das Epigramm.