Sie sitzt mit dem Rücken zum Fenster und blickt in einer Art ruhiger Aufmerksamkeit in den Raum, vielleicht auf die Landschaft, die vor der gegenüberliegenden Fensterreihe wahrscheinlich vorbeigleitet. Auf ihrer großen, seitlich den Blick auf die Nase versperrenden Brille mit Kunststoffgestell gleiten jedenfalls schwache Bilder. Ihr Gesicht sieht aus wie das von Leuten, die mit dem Zucken des Nasenflügels ihre Brille hochschieben können. Hinter der von Kinn, Hals und Schulter gebildeten Bucht schwebt eine Haarsträhne, vom Licht, das durch die Scheiben flackert, mild durchleuchtet, und im Maße ich sie beobachte, die einwärts gerichteten Fußspitzen, die linke Hand über der kurzfingrigen Blässe der rechten, die kleine Uhr mit Lederband: überkommt mich plötzlich eine große Traurigkeit, lähmend und auswegslos, darüber, daß ich sie so ansehe, so genau, so kühl, eine Wehmut darüber, daß ich sie studiere und abmustere und mir alles merke, alles: Je länger dieser Blick dauert (ein gieriger, wenngleich nervöser Blick, der sich nach Ruhe sehnt), desto stärker wird die schmerzende Gewißheit, am falschen Ort zu sein, oder anders, nicht am falschen, sondern am furchtbar richtigen, das Gefühl, zu groß für diesen Raum zu sein, zu atmend:
Sie sitzt, als warte sie auf ein Du, in einem Kreis aus Licht oder Dunkelheit, das ist nicht so genau festzustellen für meine Dämmeraugen. Der Reifen ihres aufgebockten Fahrrads dreht sich und dreht sich und dreht einen blitzenden Speichenwirbel durch den Fahrgastraum, daß es klingt wie die scheußliche Stille nach einem Sturz, einem letzten Schrei. Das Mädchen blickt über mich hin, streift mich, ohne mich zu sehen, läßt den Blick wieder forttrudeln nach draußen, wo die Landschaft immer weiterzieht. Sie trägt eine sehr enge, tiefausgeschnittene, olivfarbene Bluse, deren Ärmel ganz kurz sind, kaum über die Schulter reichen und den Arm achselknapp umschließen, den milchweißen, matten, glatten Arm; spielerisch sieht das aus, wie geprobt, wie von einem Kind getragen. Geprobt und wie mal so eben ausprobiert sehen ihre Brüste aus, als hätte sie sich noch nie mit ihnen beschäftigt. Der Stoff der Bluse ist bedruckt mit großen Blatt- und Blütenformen in rosa und türkis und blaßorange, wie ein Märchenwald, ein Zaubergarten. Eine große aufgefächerte Nelke blüht genau auf der linken Brust, als sei dieser Stoff und die Blume ihre eigentliche Haut, wie eine natürliche Effloreszenz der Drüse selbst, oder aber eine Botschaft: Geh vorüber, rühre mich nicht an!