Sehr geehrte Frau —-,

in der Frage, ob Sie über die 2 bewilligten Fehlstunden hinaus der nächsten Sitzung fernbleiben dürfen, weise ich Sie darauf hin, daß es erstens in Ihrem eigenen Interesse ist, die Lehrveranstaltungen in Ihrem Studium regelmäßig zu besuchen, und zweitens, daß die eingeräumten 2 Fehlstunden durchaus nicht für Vorträge oder außerplanmäßige Sitzungen anderer Seminare vorgesehen sind, sondern für den Krankheitsfall. Ich gehe also davon aus, daß Sie wirklich gesundheitlich angeschlagen waren und sich nicht lediglich in der “Planung” Ihrer Fehlstunden verkalkuliert haben. Ich empfehle Ihnen unbedingt, an der Sitzung teilzunehmen; 3 Fehlstunden von 13 Sitzungen sind immerhin fast ein viertel, und es ist die Frage, inwieweit die Ausstellung eines Papiers, das Ihnen “erfolgreiche Teilnahme” bescheinigt, im Falle Ihres dreimaligen Fehlens gerechtfertigt wäre. Sollten Sie nach Abwägung dieser Einwände dennoch zu dem Entschluß kommen, der Sitzung fernzubleiben, werde ich Ihnen den Schein – Erfüllung der übrigen Anforderungen vorausgesetzt – nicht verweigern. Bedenken Sie aber bitte, daß es für Ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen, die immer anwesend waren und sich dasselbe Papier hart erarbeitet haben, vielleicht nicht auf das größte Verständnis stößt, wenn andere denselben Schein mit weitaus weniger Aufwand bekommen.

Mit freundlichem Gruß
T. Th.

Pionierweg bei Loch

Bei jedem Gehen im Wald, ja überhaupt bei jedem Gehen ist es mir wie die Suche nach einer verlorenen Heimat.
Ich war einst hier und doch war ich nie hier. Ich kenne diesen Ort von je, er aber hat mich vergessen, sich abgewandt, ein fremdes Gesicht aufgesetzt. Ich kehre zurück und bin doch fremd hier, so fremd, daß ich nicht einmal zum Eindringling tauge, denn der Ort, der Weg, das Schweigen wirft mich zurück, ohne meinen Schritt je gespürt zu haben. Ich stampfe auf, klaube einen Stein aus dem Lehm im Weg, schlage ein Stück Borke von einer Kiefer. Aber ich berühre den Ort nicht, die Flächen bleiben glatt, und was für Spuren ich auch hineintrage, und was für Zeichen meiner Existenz ich den Dingen auch zumute, die Wunde am Baum, das Loch im Boden, die Spritzer einer Pfütze – kaum halte ich still in meinem Toben, in meinem stammelnden Trotz, so gleitet alles in ein innerliches Wesen zurück und wird augenblicks uralt; so uralt, daß mein eigenes Atmen zu einem lächerlichen Nichts wird davor, und alles, was ich hinzufügen oder anrichten kann (verschönern, beschmutzen, zerstören, beduften), ist immer schon gewesen, wie aus den Dingen, ihrer Tiefe selbst hervorgewachsen, vor Jahr und Tag.
Und auch der Lehm an meinen Fingern hat nur noch mit mir zu tun, ist mein Lehm, mein ureigener Schmutz, er gehört zu mir wie mein Geruch und meine Ausscheidungen, und zwischen den Striemen auf meiner Hand und dem Loch im Boden hat sich jeder Zusammenhang verflüchtigt. Abends krümelt sich auf dem Flur vielleicht ein Bröckchen Erde, eine Fichtennadel stakt in der Wolljacke, man möchte das als Zeichen nehmen. Aber den Ort, wo früher ein Zuhause war, ich habe ihn abermals verfehlt.

Ein Stückchen

Ein Stückchen weiter. Ein Mosaiksteinchen, aber vielleicht nun das entscheidende, das letzte, das Auge im Gesicht der Sphinx.
Oder so ähnlich und vielleicht auch nicht. Vorläufig geht es aber weiter, und wenn ich um sechs in der Früh aufstehe, ist wieder eine Menge zu tun.
Was Coffein in Verbindung mit Bewegung und frischer Luft so alles zutage fördert ist, wirklich erstaunlich.

Wieder am Ende, am Anfang

Krise. Nie war das Projekt in den letzten vier Monaten so sehr gefährdet, ja überhaupt in Gefahr. Alles droht wieder an inneren Spannungen zu zerbrechen, die Gewichtung der Einzelteile, die Bezüge untereinander, die Verwiese, alles wieder fraglich. Zu gewollt, zu konstruiert. Einen Textteil durch einen anderen erklären zu lassen, warum ist das so schwer? Warum liest es sich so mühelos bei anderen, zerfällt aber beim eigenen Schreiben immer wieder unter den Fingern?
Ein Hemmschuh ist auch meine fatale Eigenschaft, an einmal glänzend Fomuliertem festhalten zu wollen, um jeden Preis: Ich tue mich unsäglich schwer damit, eine gelungene Szene wieder wegzugeben, wenn sie nicht mehr in ein (wieder mal) umgekrempeltes Gesamtkonzept paßt. Dann versuche ich, das Gelungene doch noch irgendwie unterzubringen, mit dem Ergebnis, daß alles sich aufbläht und überkonstruiert und überkompliziert gerät. Besser wär’s freilich, einfach das Konzept so lange durchzukauen, bis es feststeht, und dann erst mit einzelnen Szenen und Formulierungen zu beginnen, wenn ich mir ganz sicher bin.
Verdammt, ich war mir bereits ganz sicher. Wie oft, weiß ich schon gar nicht mehr.

Nachtrag zu untenstehender Liste

  1. Warum sind die letzten Listeneinträge ohne Punkt?
  2. Warum sind die Punkte verrutscht?
  3. Warum ist der Zeilenabstand doppelt?
  4. Warum ist der Zeilenabstand normal, wenn der Eintrag kein Link ist?
  5. Wozu hat man ein html-Hilfsprogramm, wenn’s nicht funktioniert?
  6. Hätte ich wirklich alle “<a href= undsoweiter” von Hand formatieren müssen?
  7. Ich meine, von Hand???

Lektüren 2007

In meinem Leseverhalten hat sich in jüngerer Zeit eine Konstante herausgebildet, die den Ort oder ganz allgemein den Kontext der Lektüre betrifft. Es ist nämlich so, daß ich bestimmte Bücher nur in bestimmten Situationen lese. So sind die Bücher, die ich am Küchentisch während meiner Mahlzeiten (die ich meist allein zu mir nehme) lese, andere Bücher, als diejenigen, die ich vor dem Schlafengehen oder in Bus und Bahn lese, und auch von ganz anderer Art, wie der Liste zu entnehmen ist. (gerade fällt mir auf, daß diese drei: Verkehr, Bett, Essen, fast ausschließlich die einzigen Lesekontexte sind. Jedenfalls lese ich selten „einfach so“, sondern meist, weil es nichts anderes zu tun gibt, etwa, weil man darauf wartet, daß es weitergeht, man irgendwo ankommt oder der Zug endlich einfährt. Eine Ausnahme bildet Fachliteratur, die ich lesen muß, und zu deren Lektüre ich mich gezielt hinsetze. Aber das ist kein Lesen, das ist Arbeit. Ich scheine für zweckfreies Lesen wie etwa Belletristik eine innere Rechtfertigung zu brauchen, eine Belohnung nach abgeschlossener Arbeit etwa, oder eben, weil ich gerade nichts Besseres zu tun habe. Bedenklich.) Jedenfalls habe ich meine Lektüren 2007 auf zwei Listen verteilt, die diese Situation nachzeichnen.
(Mit % bezeichnete Bücher blieben liegen.)

Am Eßtisch:

Noch zwei Worte zu einer Art von Bewertung: Was mich wirklich überwältigt hat wie selten ein Buch: Peter Handkes „Mein Jahr in der Niemandsbucht“. Über diesen Eindruck habe ich bereits geschrieben. Das zweite ist Javier Marías’ „Dein Gesicht Morgen“. Da schafft es ein Autor, ein einziges, kaum zehn Minuten dauerndes Ereignis so intensiv vorzubereiten, anzukündigen, anzudeuten, ja, anzudrohen, und das 400 Seiten lang, daß der Buchrücken Schweißflecken abbekommt. Und das in einer sicheren, modernen, unaufgeregten und doch ausdrucksstarken Sprache, ein- aber nicht aufdringlich. Dies höchste Erzählkunst zu nennen wäre untertrieben.
Ich habe weniger Abgebrochen im letzten Jahr. Entweder hatte ich mehr Durchhaltevermögen, was ich, angesichts von Unleserlichem wie „Blanche oder Das Vergessen“ oder „O άγγελος της στάχτης“ nicht für unwahrscheinlich halte, oder ich hatte einfach ein glückliches Händchen bei der Auswahl. Vermutlich ist beides der Fall.
Eine weitere Entdeckung war Rushdie, dessen „Midnight’s Children“ ich im Sommer las. Beeindruckend in Sprache und Stil, ein Feuerwerk an Einfallsreichtum, Skurrilem, Zauberhaftem, Magischem, daß es dröhnt und quietscht und kracht. Allerdings muß man sagen: In der zweiten Hälfte wäre weniger mehr gewesen, da franst es nämlich.
Und noch eines, nein zwei: Dostojewskij lese ich nicht mehr. Das ist mir einfach zu blöd. Ich muß mir allmählich nicht mehr sagen lassen, was ein gutes Buch ist. Und das „Rubinhalsband“ von Henning Boetius ist einfach nur stuß.
Übrigens lese ich gerade „Away“ von Jane Urquhart: Eines der Bücher, die nur solange begeistern, wie man sie liest. Eine kurze Pause genügt, und die Begeisterung ebbt ab. Schade, daß die Handlung so merkwürdig und unglaubhaft ist. Die Sprache hätte einen schöneren Plot verdient (oder weniger davon). Gerade beendet habe ich Passig & Scholz „Lexikon des Unwissens“. Mehr darüber nächstes Jahr.
Ach noch etwas: Empfehlungen für 2008?

Ecce undique … clamor

Es ist wie eine lange zurückgehaltene, angestaute Energie, die sich plötzlich Bahn bricht: Die Straßen summen und vibrieren von nahem oder fernem Verkehr, Gehwege und Plätze sind dicht von Fußgetrappel, überall ein Blinken und Zucken und Lärmen verschiedenster Maschinen, und selbst der Fahrradständer vor dem Supermarkt ist völlig verschraubt und verklemmt von Blech.
Jedes Jahr zweimal dasselbe Phänomen, nach dem Drei-Königs-Tag und dann am ersten Schultag im August, diese plötzlich überschießende Aktivität, als sei alles und jeder froh, daß es endlich weitergehe mit der Betriebssamkeit. Genug geruht, jetzt muß wieder gelärmt und geschwurbelt und herumhektisiert werden. Nur nicht stillestehen! Nur keine Stille! Nur nicht nachdenken müssen und ins Grübeln kommen. Hauruck!
Während ich selbst gerade erst angefangen habe, den Lärm abzulegen und in diese köstliche Stille zwischen Jahresende und Jahresanfang hineinzuwachsen und dann endlich selbst bis in die Tiefe hinein ruhig zu werden, poltert schon wieder das Getriebe los, rollt an, startet durch und trifft in mir auf einen bereits entwöhnten, empfindlich bloßliegenden, aller Verhärtungen und Panzer entbehrenden Kern. Ich habe es natürlich falsch gemacht: Lieber jetzt Urlaub nehmen und diesem Fleißausbruch entkommen, als die ohnehin stillen Tage wandern gehen. Nie ist es angenehmer auf Straßen und in den Zügen als gerade zu diesen ruhigen Zeiten. Sofern „angenehm“ im Zusammenhang mit „Straßen“ und „Zügen“ überhaupt ein sinnvoller Terminus ist. Die einzige Zeit, in der es in den Menschenpferchen, die man „Städte“ nennt, erträglich ist, ist Sonntags zwischen 5 und halb acht. Sagen wir also: Zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag ist es nicht ganz so schlimm. Ausnahmen sind die geradezu absurden Menschenmassen, die am Silvestervormittag in die Supermärkte einfallen und Waren an sich raffen in Quantitäten, als gehe anderntags die Zivilisation unter. (Was angesichts der Mengen an Explosivstoffen, die da erworben werden, manchmal gar nicht so unwahrscheinlich scheint.)
Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie eine Welt aussehen könnte, in der Ruhe herrscht, eine sanfte, feierliche Ruhe, ein Leuchten in der Luft, ein Glanz auf den Dingen, wie ein gelöstes, nach Innen gerichtetes, dem Geheimnis zugewandtes Lächeln.