Solstitium (Consecutio temporum)

Das Gewicht der Schmerzlosigkeit, des Gewicht der Leere.

Als wäre die Jahre danach alles, was uns einmal verbunden hatte, nur mehr in Schmerz ausdrückbar gewesen, fühle ich nun die vielleicht schönste Zeit meines Lebens (ganz sicher sind wir nicht; es könnte auch die zweitschönste sein) zu einem Nichts verblaßt. Ohne den Schmerz hat das alles keine Geltung, war nur als Nachleiden noch gültig, nur so lange, nur vorläufig. Zuerst sehnte ich mich nach E., jetzt sehne ich mich nach dem Schmerz. Eine Zeit nach aller Zeit, wo?, nirgends. So verliert man selbst den Verlust noch, die gelebte Zeit. So verschwindet das Leben hinter einem, schließt sich, ist fort, hat es bereits nie gegeben.

Selbst ihr Name nicht, gilt nicht mehr. Wenn ich sie denke, nunmehr unter dem Gewicht des Schmerzmangels, denke ich sie nur noch als Bild, als Haar, als Mund, als Sprache, als Klang, als Flöten, als Tierlaut. So wie ich neulich zusammenzuckte, abends am Südbahnhof; sie in der Tiefe der gelben Laternen zu sehen meinte; ohne Sprache dachte ich sie; das Aufzucken im Innern namenlos, wortlos das Erkennen.

Die Schwierigkeit besteht darin, daß ich ja nicht mehr weiß, wen ich da eigentlich geliebt haben soll, noch viel weniger, wer das ist, die mir nach der Liebe den Schmerz eingab. Ich kann mich ja kaum noch erinnern; was einen ganz neuen Schmerz bedeutet, Schmerz über den Verlust eines Schmerzes, einen Schreck wie beim Sturz, wenn das letzte haschende, panische Zucken nur Luft, Leere, haltlosen Schwung zu greifen bekommt. Kein Tempus ist hier richtig, ich habe E. geliebt und ich liebe E. sind gleichermaßen zu widerlegen und zu bekräftigen. Um diese Geschichte zu formulieren, jenseits jeder Chronologie nachzubuchstabieren, bedürfte es einer völlig neuen Grammatik, einer Sprache, die Erinnerungen besser abbilden, ihre Lebendigkeit und Bedeutung ebenso wie ihr Verblassen, ebenso wie ihren weitausfallenden Schattenwurf besser umreißen könnte.

Ich versuche, es zu finden, finde keins: ein Tempus, das irgendwie von jener vergangenen und zugleich unvergänglichen Zeit handeln würde, ein Tempus, das die Kraft hätte, sich auf dieses Niemandsland von erinnertem Leben und verlebter Erinnerung zu beziehen, jenes Erinnerungsraums, in dem ich absurde Römische Dichter lese und morgens die Kaffeetasse mit kaum vernehmbarem Hallen aufs Klavier absetze, hinausblinzele in das Quietschen der Güterzüge, während du noch schläfst, das Gesicht in den Kissen, Strudel von Haar darüber, und dein Name noch E. ist.

Selten geworden: Die laut sprechbaren Wörter. Was noch an Wörtern da ist, bedarf des Flüsterns, des Im-Innern-Seins. Es sträubt sich. Es zerbricht so leicht so laut. Es ist nicht mehr so leicht wie es früher einen ankam, ein Du hineinzusprechen in Gewölk und Nacht und ihm nachzulauschen, während das Atemwasser über den Laternen verdampft. Man jubelt es nicht mehr, das Du. Man erträgt sein zitterndes Echo, wie ein Vogel die Luft aushält.

Wiedersehen am Südbahnhof

Gestern hätte ich dich fast gesehen, wie du, unverkennbar in deinem grünen Mantel und mit dem rosa Schal, der sicher immer noch nach Haut riecht und Haar (wenn du ihn noch trägst), in Begleitung die durchlichtete Treppe hochkamst, jenseits der Menschen am Bahnsteig, und für Momente so grün und rosa und schmal und schwarzhaarig, daß kein Zweifel bestand, noch zumal du wie erschrocken stehenbliebst, mit einem Ruck, schien es, nachdem du mich (sicher?) gesehen hattest, die Hand deines Begleiters ergriffst, etwas zu ihm sagtest, ungeduldig, ja sicher ungeduldig („das erklär ich dir später“) und ihn wieder hinabzogst in die Helle des Treppenaufgangs, wo ihr gemeinsam verschwandet.
Ein Schreck auch für mich, dieser vertraute Gang, das unverkennbare Schlenkern der Füße, dein blasses Gesicht, als könnte ich bis hier hören, wie du die Nase in der Kälte hochziehst, und dann die Flucht, der Schmerz und der andere, und am Ende, im Zug, als ihr doch noch eingestiegen wart, da warst es gar nicht du.