De ira

Merke: Gegen alles kannst du anschreiben, gegen Trauer, Angst, Leichtsinn, Schwermut, Verzweiflung, Langeweile, Überdruß, Verzagen, Schmerz. All das kannst du bannen, wegtun, durchleuchten, zerstrahlen, wegblasen, niederdeuten, überwinden.
Nur die Wut geht nicht weg beim Schreiben. Eher, daß sie noch zunimmt, mit jedem Wort, daß du ihr widmest. Du kommst nicht gegen sie an. Immer kleiner und fester und knotiger wird sie und löst sich nicht auf. Bis schließlich jeder deiner Atemzüge sie wiederholt, wieder und wieder. So ist die Wut. Du wirst sie nicht los, nie.

Dämmerung

So ein Himmel, wieder kaum strukturiert, erschöpft von Nässe und den Anstrengungen, die es kostete zu regnen, nachtstunden auf und ab, still jetzt, still und voller blassem Gefädel, zu leicht fast für Vögel. Einen Glockenton bräuchte es für Licht und Sperling, die scharfe Kante eines aufglühenden Schattens, ein Zwinkern der Hundsrose. Aber die Wege sammeln weiter Dämmerungen ein, eine Zehrung den langsam stürzenden Bäumen an ihrer Schulter.

Zeitumstellung

Es ist wieder so weit. Heul, mecker, moser, maul. Was ist los? Die Uhren werden umgestellt. Ja und? Ach, mein Biorhythmus ist wieder ganz durcheinander. Jammern und Zähneklappern aller Orten! Was für eine Komödie, man mag es nicht mehr hören. Nicht allein, daß man sich wieder diese alberne Ratlosigkeit anhören muß („Äh, im Herbst stellt man die Uhr doch zwei Stunden zurück und im Frühjahr nur eine, oder?“), landauf landab die verrücktesten Eselsbrücken zu hören bekommt („Ganz einfach: Im Herbst werden die Tage kürzer, also werden die Stunden auch, äh … oder so“), werden Jahr für Jahr die Hypothesen darüber, wie sich die Zeitumstellung für das persönliche Erleben auswirkt („Wenn die Uhr eine Stunde vorgeht, wird dann mein Kaffee schneller kalt?“) oder für die Umwelt („Die Vögel wissen ja gar nicht mehr, wann sie singen sollen“; „Die längere Sonnenscheindauer fördert die Klimaerwärmung“), immer, nun ja, verwegener.
Am schlimmsten weil lächerlichsten ist aber der Verweis auf den sogenannten Biorhythmus („Ich brauche Wochen, bis ich wieder normal schlafen kann“). Es ist wirklich erstaunlich, wozu die schiere Einbildung so in der Lage ist. Daß es so weit mit dem Biorhythmus nicht her sein kann, zeigt folgende kleine Überlegung:
Man stelle sich einmal mal vor, es käme eine Behörde und würde folgendes vorschreiben: Jede Nacht von Samstag auf Sonntag werden die Uhren bundesweit zwei stunden zurückgestellt. Jede Nacht von Sonntag auf Montag werden sie dann wieder um denselben Betrag vorgestellt. Undenkbar? Im Gegenteil, bereits jetzt freiwillige Praxis. Man nennt das „Ausschlafen“. Biorhythmus? Da werden Nächte durchgezecht oder -gearbeitet, da steht man mal zum Joggen früher auf, mal bleibt man liegen, dann hat man Gleitzeit und besucht Mittwochs morgens Tante Erna und geht dafür Donnerstags morgens zwei Stündchen eher zur Arbeit, da verlängert man sich Winters den Tag mit künstlichem Licht, da erhebt man sich für die Geschäfts- oder Urlaubsreise um vier aus den Federn, da wird geschoben und gedrückt und genmacht und getan, ohne daß irgendwen Sonnenstand oder die Jahreszeit sonderlich interessieren würde. Biorhythmus?
Und wenn jetzt einer daherkommt und oberschlau darauf verweist, daß Kühe enorm unter den verschobenen Melkzeiten zu leiden hätten, der Biorhythmus mithin eine nicht einfach wegzuwischende Realität sei, so frage ich zurück: Bin ich ein Rindvieh? Eine Kuh macht auch nicht Freitags und Samstags die Nacht zum Tage und am nächsten Morgen den Tag zu Nacht; eine Kuh schläft auch nicht Sonntags aus; eine Kuh pocht nicht auf ihren Biorhythmus, nur um dann zu behaupten, Sonntags sei es nicht so schlimm; wenn eine Kuh einen sogenannten Biorhythmus hat, dann hat sie den jeden Tag und nicht nur dann, wenn es ihr gerade in den Kram paßt. Mit dem Biorhythmus mag es sich verhalten wie es will: Wenn man ihn hier nicht ernstnimmt, wird man sich dort nicht echauffieren dürfen. Wer angesichts der Zeitumstellung über seinen gebeutelten Biorhythmus mault, muß bitteschön auf sonntägliches Ausschlafen verzichten.
Sehen wir es doch mal nüchtern. Angenommen, man steht am Sonntag der Umstellung um acht Uhr (alter Zeit) auf und geht am Abend desselben Tages um dreiundzwanzig Uhr (alter Zeit) schlafen. Egal ob vor oder zurück: Die Umstelldifferenz von einer Stunde verteilt sich also auf fünfzehn Stunden. Das macht vier Minuten pro Stunde. Machen Sie es doch das nächste Mal so: Statt die Uhr eine Stunde auf einmal vor- oder zurückzustellen, machen Sie es häppchenweise, zwischen acht Uhr morgens und elf Uhr abends jede Stunde vier Minuten.
Und zusammenaddiert: Im Winter steht man eine Stunde später auf, im Sommer eine früher. Punkt.
Und die Singvögel? Die werden sich dran gewöhnen.

Trick 17

Morgens jetzt immer um sechs aufstehen, nicht zum laufen, sondern zum schreiben. Unter allen schwierigen schreibstunden des tages scheint das die am wenigstens schwierige, die am schwächsten widerstand leistende stunde zu sein. Der kaffee durchhellt und befeuert die müdigkeit, nimmt ihr das schläfrige und schwere, und verwandelt sie in eine so transparente konzentration, daß es, horcht man nur hin, aus dem noch in den träumen wurzelnden unterbewußten worthaft zu brodeln, zu schillern und zu purzeln beginnt; oder vielleicht ist es einfach ein von der stille des schlafs geschärftes inneres ohr, das später am tag für gewöhnlich zufällt. Jedenfalls scheint der trick zu funktionieren, vorläufig zumindest. Ich werde nicht so wach, daß die stimmen verstummen, und bin doch dank dem kaffee nicht mehr so schläfrig, daß jeder tastendruck ein schrei nach ausruhen wäre. Eine halbe seite ist in so einer morgendlichen sitzung durchschnittlich schaffbar. Läuft es gut, auch beträchtlich mehr.
Das ganze in strenger disziplin. Das heißt: Jeden werktag. Ein ritual. Nur so ist gewährleistet, daß ich nicht wieder den kontakt verliere zur in der erschaffung befindlichen (und erst halbgeschaffenen) welt, daß die wege offenbleiben, die ver- und abzweigungen sichtbar und zahlreich. Das ziel: die rohfassung fertigzustellen bis zu meinem geburtstag. Ein geschenk an mich selbst, könnte man sagen. Es ist jetzt zehn jahre her, daß ich begann, diese geschichte zu schreiben, wieder und wieder von neuem.

wecker

Taste the Future

Der Welternährungstag findet jedes Jahr am 16. Oktober statt und soll die Menschen daran erinnern, dass noch immer eine große Anzahl Menschen Hunger leiden müssen.

Ist es Zynismus, Boshaftigkeit, Unbeholfenheit, Zufall, Planungszwang oder ganz einfach schiere Gleichgültigkeit, daß die Veranstaltungszeit der Schlemmermesse Anuga diesen Gedenktag einschließt?

Ein Vorschlag: Alle am heutigen Tage erwirtschafteten Gewinne auf der Messe werden gemeinschaftlich der Welthungerhilfe oder einem vergleichbaren Verein gespendet. Na, wär das was?

Das Motto der Messe lautet übrigens: “Taste the future”. Da kann man nur anfügen, wohl dem, der eine hat.

Verwirrend

… daß einerseits die Macher der entsetzlichen Radiowerbung meines Supermarktes nicht wissen, daß Federweißer wie ein Adjektiv zu deklinieren ist (des Federweißen, dem Federweißen, den Ferderweißen, oh Federweißer!) und den Sprecher enthusiastisch fragen lassen: “Was paßt eigentlich zum Federweißer?”; verwirrend weiterhin, daß man hierzulande wohl noch etwas grün hinter den Ohren ist, was die Kultur rund um den Neuen Wein angeht, und das, obwohl wir hier in nächster Nähe nicht nur ein berühmtes Weinbaugebiet haben (Rhein & Ahr); verwirrend schließlich, daß die Deklination auf Pfälzisch dann wieder gestimmt hätte.

Random Acts of Viciousness

Einmal möchte man das tun, alles in Kauf nehmen, gerne zahlen, bereitwillig, genüßlich sogar, den Ärger abkriegen, ist ja nur ein finanzieller Schaden, der läßt sich wiedergutmachen, es tut ja nicht wirklich weh, dafür wäre es aber absolut lohnend, also:
Einmal nur unter Ausnutzung des Überraschungseffekts einem dieser Blechschepperer die Ohrstöpsel vom Kopf reißen, dann im selben Schwung das daran angeschlossene Telephon, den Eipott, den MP3-Spieler oder wasweißich mit raschen Griff entwenden, mit der anderen, freien Hand das Zugfenster herunterreißen und das ganze hassenswerte Ensemble, Ohrstöpsel, Kabel, Kiste, alles in hohem Bogen hinauswerfen.
Und dann in das starre Schweigen der Schrecksekunde und das entgeisterte Gesicht des Schepperers hineinsprechen und leise, ganz leise feststellen:Schluß jetzt!

Blech

Oder neulich, auf einem Gang an den Pferdekoppeln oberhalb von Nettekoven. Ich hatte Schlehen gesammelt, am einzigen Strauch, der welche trägt dieses Jahr, eine kleine Tüte voll; dann trugen mich die Füße fort wie von selbst, in kleinen, schwebenden Schritten, über den aufgeplatzten Asphalt des Fahrwegs, zum Wald. Es war eine Stunde der Wachheit, wie ich es nenne. Am späten Nachmittag, nach Kaffee und Ruhen, im Freien, auf dem Feld oder einem Waldweg, geschieht es manchmal, daß die Atemzüge sich verdichten, die Schritte wie Pendel fallen, die Widerlager der Arme in knappster Genauigkeit auf und nieder schwingen. Dann ist die Luft dünn und gespannt, von Geräusch und Licht flackernd. Die Finger zucken nach Berührung, nach Erproben, die schrundige Borke einer Eiche, die Schuppen einer Föhre, einen Zapfen, eine Handvoll roter Sand, einen abgeknickten Zweig; der Blick schwirrt in den faserigen Höhlen der Hecken, Wegraine und brombeerumspindelten Zäune, Hände in den Taschen bleibe ich stehen, atme tief aus in die Ebene hinein, mit Stadt, Kirchturm und einem Heißluftballon darüber, lausche auf das Knirschen eines Fahrzeugs aus dem Waldparkplatz, auf Hufschläge und Kinderstimmen, und alles summt von verborgenen Geschichten. Stockschläge fallen aus der Tiefe des Pfades, und ins Gegenlicht hingehaucht, schwankt da, funkensprühend, die Gestalt eines Greises, der vielleicht gestern glaubte, seine Enkelin beerdigt zu haben, die gar nicht seine Enkelin ist. Ein junger Mann schlägt zaghaft die Autotür zu und wartet, die Augen beschattend, auf eine Frau, mit der er verabredet ist. Sie wird nie kommen. Jemand geht zwischen den Buchenstämmen, und ehe er verschwindet, blitzt ein Spaten kurz auf. Man betritt eine Hütte und findet auf eine Pritsche ein Photo von sich selbst.
Nur in einer solchen Stunde der Wachheit ist es je gelungen, einen Ort zu betreten, den ich mit einer Geschichte, wo sie als zitternde Spiegelung an die Oberfläche der Welt trat, gemeinsam hatte für die Dauer einer Betrachtung; einen Ort, an dem sie sich mir entgegenbog, so daß ich sie berühren konnte, ohne wirklich in sie einzudringen, bis ich schon wieder weg war, und das Fahrzeug, der Alte, das Kind, das aus dem Fenster sprang und zwischen den Spalierobstbäumen davonhuschte, wieder abgetaucht waren in den Raum ihrer Verzweigungen, still und unbekannt, an denen ich nicht mehr teilhatte.

Ein Reh

Als ich einbog vom Hauptweg in den dämmrigen Seitenpfad, stakste da wenige Schritt voraus ein Reh. Es sah mich, erstarrte und fiel im Erstarren zurück ins Unüberschaubare des Pfadrains, wo es augenblicks mit Strauchwerk und Blättergewirr und den wuchernden Schatten am Weg verwuchs. Eins geworden mit dem Grün, blieb es darin unkenntlich, sonlange es nicht ein Zucken des Ohrs, eine Wendung des Kopfes, ein unsicherer Schritt wieder herauswarf und in der Bewegung vereinzelte.
Auch ich blieb still und probierte, ob es mir nicht ebenso gelänge, mit dem Holunder und den Brombeeren neben und über mir zu verwachsen. Eine Fliege kitzelte mich an der Nase. Ein Tropfen schlug mir auf die Stirn. Ich blieb ganz still, die Augen unverwandt auf die Stelle gerichtet, aus der heraus mich das Reh zweifellos scharf beobachtete, beroch, belauschte; zwar sah ich es nicht; doch spürte ich seine gesammelte Aufmerksamkeit auf mich gerichtet wie einen hellen Strom. Meine Fingerspitzen wurden taub. Ich fragte mich, ob es mich atmen höre, wie es in meiner Nase röchelte, die Jacke knisterte, wie selbst das Blut in den Adern noch zu lärmen schien. Ich kam mir sehr laut vor.
Dann, ohne daß ich mich erkennbar geregt hätte, knackte plötzlich etwas, die Farne und die Weißbuchenzweige wippten. Schatten und Lichtwirrung gerieten in Bewegung und verdichteten sich zu einem staksigen Sprung, mit dem das Tier ausbrach, aufflog, ins Dickicht stürzte und hinter zurückschlagenden Zweigen im nu verschwunden war.
Wer weiß, was es plötzlich erschreckt haben mochte, den Aufschlag von Sternenstaub, das Rascheln einer Spinne im Netz, oder einen meiner finsterlauten Gedanken.