Der linguistische Eiertanz, der dieser Tage um die kulturkritischen Äußerungen Kardinal Meisners gemacht wird, ist wahrlich einer totemistischen Gesellschaft würdig. Das Phänomen der Ächtung ist in den Sprachen der Welt weitverbreitet. In vielen Gesellschaften darf der Name eines Geistes oder einer Gottheit nicht ausgesprochen werden. Die Jagdsprache verdankt sich in nicht geringem Umfang der primitiven Angst, der Name eines Tieres, leichtfertig ausgesprochen, könne dieses verjagen oder anlocken. Manchmal gehen solche Tabuisierungen sogar so weit, daß nach dem Tode eines Stammeshäuptlings Wörter, die an dessen Namen erinnern, nicht mehr gebraucht werden dürfen, was unter Umständen alle paar Generationen zu einer kompletten Auswechslung des Wortschatzes führt.
Ähnliche Blüten treibt zur Zeit der sich dem Schlagwort der „political correctness“ verschriebene Massenwahn. Ich habe mal erlebt, wie in einer Mensa einer größeren deutschen Universität eine Frau sich erhob, zum Nebentisch ging und von einem der dort plaudernden jungen Männer verlangte, er solle nicht ständig „Titten“ sagen, das sei diskrimierend, sie fühle sich als Frau in ihrer Würde verletzt. Der Betroffene tat das meiner Meinung nach einzig Richtige: Eines erfolgreichen englischen Films eingedenk rief er mehrmals laut: „Titten, Titten!“. (Die Beschwerdeführerin ließ ihn durch die Aufsicht aus dem Lokal entfernen.)
Als könne man gesellschaftliche Mißstände aus der Welt schaffen, indem man bestimmte Wörter dämonisiert! Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis „Afroamerikaner“ ähnlich unfein klingen wird wie „Neger“ – oder ist es vielleicht schon so weit? Vielleicht ist es an der Zeit, nüchtern zu werden, nachzudenken, und den Schritt von der totemistischen zur aufgeklärten Gesellschaft zu wagen. Vielleicht würde man feststellen, daß es eben mehr bedarf als ein paar Sprachtabus (die sehr leicht zu erklären und einzuhalten sind, geradezu wohlfeil), eine Ungerechtigeit aus der Welt zu schaffen. Oder eine mahnende Erinnerung lebendig zu halten. Jedenfalls trägt ein Vermeiden gewisser Vokabeln herzlich wenig zu einer gerechteren Welt bei. Wie befreiend wäre es aber doch, Wörter wie das von Meisner leichtfertig gebrauchte, endlich zu entdämonisieren – sie so lange und so pervasiv zu verwenden, bis ihre schlechten Konnotationen verblaßt sind. Aber das wäre natürlich nicht im Sinne der Gralshüter des schlechten Gewissens.
Was bedeutet nun die geächtete Vokabel? Entartet adj./part. (von Art „aus der Art geschlagen; deformiert bis zu einem Punkt, da die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Genus nicht mehr erkennbar ist; typischer Genusmerkmale verlustig gegangen“ Auf Kultur angewendet also so viel wie: „einer Kultur nicht mehr hinreichend ähnlich, um noch als solche bezeichnet werden zu können.“ (Kleine Selbstanwendungskapriole: Ein Unwort wäre dann so etwas wie ein entartetes Wort.) Wenn nun jemand der Ansicht ist, etwas sei entartet oder drohe zu entarten, dann muß er das, bitteschön, auch mit dieser Vokabel sagen dürfen. (Es gibt schließlich auch entartete Materie, darüber regt sich indes niemand auf) Daran kann sich dann eine sachliche und inhaltsbezogene Diskussion des Gesagten anschließen. Was aber passiert stattdessen? Man wirft Meisner nicht vor, daß seine Äußerung Unsinn ist, sondern prangert seine Wortwahl an.
Was? Der kleine Kevin hat einen Ausdruck gebraucht? Uiuiui. Das wollen wir nicht noch einmal hören! Dat Chantal hat geflucht? Huhu, böse, böse, Seife essen! Herr Meisner hat „entartet“ gesagt? Oh oh oh, zur Strafe hundertmal schreiben: „Ich soll keine Tabuwörter benutzen.“
Mein Gott, was für ein Theater! À propos: Wie war das noch in diesem Film? Jehova, Jehova!
Da möchte man doch glatt einstimmen: Entartet, entartet!