Lichtwochen und ein Blick (6)

Der letzte aller Abende. Seitdem hatte das Abendlicht sich aufgelöst, die Stunden der Dämmerung sich selbst ad absurdum geführt.
Der letzte aller Abende.
Es gab keine Abende mehr.
Es gab nur noch Tage, nur noch Licht.
Kein Verklingen mehr. Keine Restsüße mehr. Die Textur des Lichtes änderte sich: Farbe, Härtegrade, Geschwindigkeit, Dichte, Amplitude, die Sonne ging unter, es wurde dunkler und schließlich ganz dunkel, und irgendwann, na ja, war es halt Nacht. Aber ein Abend war unter den neuen Verhältnissen, war nach jenem

letzten aller Abende

nicht einmal denkbar. Wie hätte auch. Zu einem Abend hätte gehört, daß man gemeinsam hinaussah auf die gleißenden Schindeln, die verdampften Kamine, das niederfallende Blau. Zu einem Abend hätte der Glanz in E.s Gesicht gehört, die Spiegelung dieses Niederfallens, die Bestätigung von Welt und Sonne und Schönheit, die ihm aus E.s Auge zuteil geworden wäre, und ihr schweigendes Dasein, und ihr Lachen, und ihr sattes Seufzen, wenn sie getrunken, wenn sie das letzte Stück Pizza aufgegessen hätte. Zu einem Abend würde die Terrasse gehören, die Albernheiten der Kinder im Nachbarhaus, das Quietschen der Güterzüge jenseits des Bahndammes, die die nahende Dunkelheit durchwirkten. Ein geflüstertes „Du …“. Um ein Abend zu sein, hätte es eines gemeinsamen Bettes bedurft, des Hinsinkens in müder Keuschheit. Um ein Abend zu sein, hätte diese Stunde sie beide enthalten müssen: ihrer beider Atmen, ihrer beider Vergegenwärtigung von Tag und Weg und Gemeinsamkeit, ihrer beider Müdigkeiten und ihre Erwartung darauf, gemeinsam wachzuwerden unter dem Himmel des nächsten Tages.
Und überhaupt einen nächsten Tag.

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