Lagrange

festgefahren, toter punkt, beim schreiben, beim nicht-schreiben, beim denken gewiß, vielleicht sogar beim träumen. ich kann nicht zwei worte denken, ohne daß sich sofort das gefühl einstellt: da warst du schon einmal. mentales wiederkäuen könnte man es nennen, nur heraus kommt dabei selten etwas. nur wiedergekäutes, das nicht unbedingt, kaut man es länger wieder, besser wird. ich strampele und ziehe und zerre, aber es ist immer das gleiche lied: voraussagbares, neu geordnetes material, tabellarisches.
diesmal hab ich’s, diesmal hab ich’s, diesmal entkomme ich, dachte der hamster im laufrad.

kulissen, plakate

es bleiben immer dieselben bilder und sehnsüchte, was man auf der reise sich vorstellte, ein glück, ein warmer raum, wird sich entziehen. du läufst durch den wald und freust dich einen langen tag, aber die heimkehr ist nie so, wie du sie dir vorgestellt hast. du siehst dich selbst, wie man aus dem dunklen frost hineinspäht in den lichtkreis einer lampe, in der menschen sitzen mit ruhigem antlitz, daheim und bei sich: so einer möchtest du werden, da willst du hin. in-remscheid-ende-06-004oder vornübergebeugt über eine kladde, ein heft, eine tastatur, du selbst, in heilige gedanken verheddert, glühend und doch ruhig, ab und zu gelassen und deiner einfälle sicher, nach der kaffeetasse greifend. ein bild bleibt es, und nichts daran ist wesentlich, sowieso nicht. es ist die vorstellung eines selbst, dessen wesen zurücktritt vor einer kulisse, einem plakat. ich sah einen bekannten seine abschlußarbeit schreiben. das sah gemütlich aus, lebensvoll, schwierig, ohne quälend zu sein. das war schön. so müßte es doch gehen, dachte ich. so ähnlich ergeht es einem manchmal, wenn man einen schreibwarenladen betritt. die sauberen kladden, verheißungsvoll in ihrer erwartung, die leeren seiten mögen gefüllt werden, das schreibgerät, so klar und sauber und leicht zu handhaben wie ein endlich geglückter gedanke, den man, bemächtigte man sich nur dieses füllers, zwangsläufig haben wird. es ist derselbe irrtum wie der, den einer begeht, der sich mit dem neuen mantel, dem hemd, den schuhen eine persönlichkeit, ein ich anzuziehen meint.
aber kamst du nicht irgendeinmal so nach hause, wie du jetzt es dir erträumst? feldweg-effekte-009du erinnerst dich: da war es so. da auch. du ziehst den mantel über, schnürst die schuhe, wirfst brot und käse in den rucksack. aber den weg, den du so oft gegangen bist, hast du nur einmal gefunden. die wälder sind eine kulisse, die die erinnerungen ausstellt.
die lampe überm tisch ist es auch.

… ein stückchen weit.

ein wetter bei dem die finger in minuten klamm werden und schokolade im mund nicht schmilzt. die wege schmatzen den schritten nach, in den tümpeln schillert es wie von öl, rabenkrähen sinken naßschwer auf ein feld. an den wegekreuzen, auf den bögen der hügel, unter manchem heckensaum hockt der wind und wartet darauf, loszubrechen. bricht los, aus gesammelter ferne, zieht an den ohren, wühlt in den taschen, bläst die blicke über den hügelkamm davon, dann verjault er um eine häuserecke und ist fort. die wipfel schwingen ihm nach. nachtgeister, die sich versteckt halten, kosten ein bißchen vom sturm. der wald nährt ihnen ihre dürren hoffnungen. der rotz läuft aus der nase, die stimme am gaumen verklemmt, was ich sagen wollte, verschluckt sich am wind. wie zwei muschelschalen sind die steifen hände ineinandergeschmiegt.
später abblätternde farbe auf einem holzzaun. säume, ränder, verschwiegenheiten. und bemoostes kinderspielzeug: eine schubkarre, ein sandförmchen, eine schippe mit gespaltenem blatt. darüber eine blumenampel, ein buntbemalter briefkasten, eine fensterbank. hier möchte ich einmal mit dir sitzen, eine warme hauswand im rücken, eine decke gegen die abendkühle über den beinen, die füße im kühlen gras, die alterfleckigen hände ineinandergeschmiegt. es soll dann alles so sein, wie es immer war, seit jetzt. ein lichtflaum liegt auf den brombeeren und brennesseln, der wald schickt seinen schatten aus, die amsel flötet nahebei, und es ist herbst, oder abend.
wie vergnügt wir laufen durch die ecken und winkel der böen. unsere hände sind voll angst und hingabe, und auf den straßen rollt die zukunft heran.

Mein persönliches literarisches 2006

Buchbegleiter des vergangenen Jahres. In ungefährer chronologischer Folge (aufsteigend), mit Überschneidungen. Selten liegt nur ein Buch bei mir vor dem Bett, auf dem Eßtisch, im Rucksack, auf der Toilette. Anmerkung: „*“ bedeutet „abgebrochen“ oder „unterbrochen“; „!“ bedeutet „in Bearbeitung“

  • Der Schatten des Windes (Zafón)
  • Δύο φορές Έλληνας (Κουμανταρέας)
  • Onkel Wolfram (Sacks)
  • The Blind Watchmaker (Dawkins)
  • Der Sieger (Zuławski)
  • *Die alte Erde (Zuławski)
  • Bluebeard (Vonnegut)
  • Meine Reisen mit Herodot
  • *Lady Chatterley’s Lover (Lawrence)
  • *Plexus (Miller)
  • Die Suche nach der verlorenen Zeit (2) (Proust)
  • Life of Pi (Martel)
  • *Z (Βασιλικός)
  • Nachtzug nach Lissabon (Pascal Mercier alias Peter Bieri)
  • *Eine Kindheit in der Provence (Pagnol)
  • 52 Wanderungen (Hohler)
  • The Hard-Boiled Wonderland and the End of the World (Murakami)
  • Down Under (Bryson)
  • Robinson (Meijsing)
  • *Der Neandertaler (Kuckenburg)
  • *Australiens Aborigines. Ende der Traumzeit? (Supp)
  • The Biographer’s Tale (Byatt)
  • Η μπλε ώρα (Χειμονάς)
  • *Shangri-La (Michael MacRae)
  • *Mein Weg durch Himmel und Höllen (David-Néel)
  • Das Mädchen, das vom Himmel fiel (Peper)
  • Ein Schwarm Regenbrachvögel (’T Haart)
  • Kafka on the Shore (Murakami)
  • *Die letzte Flöße (Ekmann)
  • !The Glass Palace (Ghosh) (angefangen)
  • Blogs. Literarische Aspekte eines neuen Mediums (Ainetter)
  • The Curious Incident of the Dog in the Nighttime (Haddon)

Zwischendurch immer mal wieder:

  • The Variety of Life (Colin Tudge)
  • O άγγελος της στάχτης (Λαμπαδαρίδου-Πόθου)

Aus verschiedenen Büchern informiert über:

  • Mongolei
  • Transsibirische Eisenbahn
  • Zentralasien
  • Aborigines
  • Ökosysteme Feldflur/Wald/Siedlungsraum

Wissenschaftlich

  • Ovid, Metamorphosen
  • Geschichte der griechischen Literatur (quer)
  • Herodot, Historiae Buch I
  • Vergil, Aeneis, II
  • Cicero, Tusculanae Disputationes (quer)
  • Einführung in die Erzähltheorie (Fludernik) (quer)
  • Auctor & Actor (J. J. Winkler) (quer)
  • Eurypides, Medea
  • Apuleius, Asinus Aureus (quer)

So verschieden, wie die Bücher, so verschieden die Situationen, deren Begleiter sie sind; und ebenso vielfältig die Gründe, wenn man die Lektüre abbricht. Nicht immer liegt es am Buch:Die letzten Flösse (sic!) habe ich sehr genossen, bis mich Referate und Hausarbeiten zwangen, die Lektüre zu unterbrechen; schließlich war die Leihfrist einschließlich Verlängerung endgültig abgelaufen, und ich mußte das Buch zurückgeben. Manchmal kann man ein Buch auch regelrecht aus den Augen verlieren. Dann ist es schwierig, nachträglich Gründe anzugeben, warum man es sinken ließ und nicht wiederaufnahm. In den Wirren des vergangenen Sommers müssen sich irgendwann auch die Buchliebschaften überlagert, überkreuzt, verwirrt und verschoben haben, so daß irgendwannMeine Kindheit in der Provence liegenblieb. Manchmal gehört auch ein Buch zu einer bestimmten Stimmung, in einen bestimmten außerliterarischen, dem Leseereignis zuträglichen, zum Leseereignis passenden, ja die Lesung erst komplettierenden, vervollkommnenden Zusammenhang: Bei derKindheit war dies ein Dreieck aus Schwimmbad, Eisdiele, Wiese vor dem Poppelsdorfer Schloß. Dann kam der Regen, das Freibad schloß, das Eis schmeckte nicht mehr, und ebenso wanderte das Buch wieder ins Regal. Also nächsten Sommer? Vielleicht. Aber vielleicht ist dann auch das Gefühl da, daß es nun zu spät sei. Dann wird dieser Lesestumpf für immer in den Sommer 2006 und seine Geschichten gehören. Alles andere wäre ein anagnostischer Fehltritt.
Daneben gibt es natürlich Bücher, die ganz einfach enttäuschen. Ich gebe es nicht gerne zu, aber irgendwann im letzten Viertel vonZ wurde es mir zu langweilig. Vielleicht habe ich auch einfach zuwenig (auf Griechisch) verstanden, um noch so viel Schwung zu haben, es zu Ende zu lesen. AuchLady Chatterley’s Lover vermochte mich irgendwann nicht mehr zu fesseln, obwohl die erotischen Schilderungen an Qualität ihresgleichen suchen, Hut ab! Definitiv unleserlich (weil wirr) warShangri La, ebenso wieDer Neandertaler. Die Studie über die soziale Situation der Aborigines Australiens erwies sich bei näherem Hinsehen als Dissertation und ebenso unattraktiv war sie auch verfaßt. Für so etwas ist mir meine Freizeit mittlerweile zu schade. Texte, die reine Information sind, muß ich schon so genug lesen.
Plexus von Henry Miller dagegen war mir irgendwann schlichtweg zu blöd.
Wenn ich mir nun diese Liste so ansehe, stelle ich fest: Zu wenig. Zu viele Abbrüche, die auf verschenkte Zeit hindeuten. Zu wenig Klassiker. Zu wenig Belletristik insgesamt. Keine Neuentdeckung.
Bleibt noch der Ausblick vom gegenwärtigen Standpunkt:The Glass Palace wird nachSchnee wiederaufgenommen. Kafka habe ich quasi versprochen zu lesen. Viel Non-Fiction steht auf dem Programm, Soziologie (Boltz), Philologie/Anthropologie (Winkler), Linguistisches (Matthews), Gesellschaftskritik (Grönemeyer), Geschichte (Bringmann), Exobiologie (Cohen). Was mich wirklich reizt: Mal wieder Magie, Turbulentsen, sprachliches Dunckelviolett & bunte Vyrbelstuerme. Aber gerade die sind selten zu finden. Weiß jemand was? Oder muß ich es selber schreiben?

kreativität

alles, was ich mir ausdenken kann, ist tabellarisch. was mir fehlt, ist der sprung, der plötzliche satz heraus aus den tabellen ins kreuzundquer, eine querfeldeine, nicht-lineare verbindung, vernetzung nach außerhalb.
außerhalb, das ist das problem. immer schon gewesen: das paradox des kreativen. wie entsteht in einem einzelnen geist aus der verbindung von vorhandenen teilen etwas neues, das mehr ist als die summe seiner teile, ja sogar mehr als die summe seiner teile und der art ihres ineinandergefügtseins?
ungelöst.
das müßte etwas sein, das, aus dem eigenen geist geflossen, diesem geist völlig fremd und als das werk eines anderen erschiene. (geht es nur mir so, daß die erzeugnisse der anderen immer so viel vielschichtiger und kreativer, eigensinniger, rätselhafter scheinen als das eigene? oder liegt das in der natur der sache?) und ein weiteres paradox: könnte ich es lösen, wäre es lernbar. aber gerade ein algorithmus (und nur ein algorithmus ist lernbar) darf es ja nicht sein. oder gibt es algorithmen, die unerwartetes produzieren? wohl gemerkt: nicht zufälliges. sondern nicht-vorhersehbares, das gleichwohl aus der rückschau völlig folgerichtig, bedeutungshaft, stimmig und doch: neu ist.

am ersten januar

in säulen gebogenen lichts kann man hier wandern, unter einem himmel, von winden eingezwängt nach allen seiten, und über dem grat der fichten, die nach der wiese greifen, lauert der nächste regenguß. zerspelltes licht liegt auf hüttelbohlen; kommst du herein, tritt dein schatten zu dir, dir entgegen, winkt dir zu, ein bild deiner eigenen sterblichkeit, beweglich wie du selbst. du setzt dich zu ihm, der tee dampft, spiralen von sonne steigen der decke zu, in den händen zerfällt das frische brot. kein laut außer dem feuerknistern der verkrümmten buchenblätter. alles hält dieser boden voller moose für dich bereit, ein bett, ein grab, ein liebeslager.

nachts. in den straßen

Ich blieb stehen. Die Nacht peitschte weiter. Ein Wind kam von See, wirbelte Dunkelheiten verschiedener Färbung und Schwere an mir vorbei, leise Stimmen an die gesättigte luft abgebend, so daß die Laternen straßauf straßab zu flackern schienen; doch waren es nur Herden von Käfern, die staubig und wie eine bewegte Verschmutzung der Nacht, aus der das Licht der Lampen floß, um die Pfähle und Schirme schwirrte. Ab und zu brummte es, wenn ein gepanzerter Leib silbrig gegen das Licht schlug und torkelnd wieder vom Dunkel zurückgenommen wurde, das ihn Sekunden zuvor losgeschickt hatte. Die Flügelpaare knisterten.
Manchmal wogte ein Platz von Stimmen, klangen Spiegelungen von Weingläsern, Auslagenfenstern, Vitrinen mit Fisch und Meeresfrüchten, zuckte Neon in grün, rosa, blau, spiegelte sich Uhrglas und Brillenbügel und Frauenschmuck in zitternden Pfützen, denn die ersten Regenfälle waren eben gewesen.

herausgefordert

sich den gesellschaftlichen herausforderungen des Landes stellen – wenn ich so etwas schon höre. diese herausforderungen gehen von uns selbst aus. verzichten wir darauf, gibt es auch keine herausforderung und damit kein problem, dem man sich stellen müßte. da wird wieder mal so getan, als seien unsere sozialen probleme eine naturkatastrophe.

An C. (“Wenn ich einmal groß bin …)

“[…] Doch, eine Zeitlang wußte ich sehr wohl, wohin ich wollte. Ich hütete mich davor, so großspurig wie jener Literat mit den Schweinsäuglein (Thorsten, Markus, Thomas, Michael, keine Ahnung) aufzutreten, aber im Grunde war mein Ziel genau das: Wenn ich groß bin, will ich Professor werden. Ich sah allerdings in diesem Bild des Professors, der ich einmal sein würde, eine Figur, die es nicht gibt und auch nie gegeben hat. Es war eine Phantasie, die sich einen feuchten Dreck um die Wirklichkeit scherte, eine Phantasie, die einer Gedankenwelt entsprungen war, in der Vokabeln wie Forschungsfinanzierung, Drittmittel, Projektanträge, Gutachten und Bewilligung nicht vorkamen. Eine gedachte Entität in einer gedachten Welt, in der es zur Forschung nicht Geld sondern Fleiß, Eingebung, Kreativität und Freiheit brauchte. Eigentlich kann man sagen, daß ich eine Märchenfigur werden wollte. […]”