…das Wort “Liebe” enthalten

nichts ist über dieser liebe unwichtig geworden, das schreiben nicht, das studium nicht, die angst nicht. aber in mir ist ein neuer mut. ich blicke mich um und vor mir ist wieder zukunft. da sehe ich nicht viel genaues. aber ich fühle mich von dieser zukunft aufgenommen und in ihr enthalten, und so wage ich wieder einen schritt. und noch einen.
ich könnte wieder gedichte schreibe, die das wort “liebe” enthalten. ich tue es nicht. aber ich könnte.

waldlauf

wieder morgens laufen: man gewöhnt sich daran, umschattet von wald, begleitet von gewölbten tiefen zu laufen, unter einem schieferfarbenen himmel, der sich nur mühsam von den Kronen der Bäume rechts und links des weges ablöst, durch dickicht, das geradewegs in die nacht, ins wasser, in nester führt, in lichtungen auskommt, wo hexenhäuser wachsen. beim ersten, beim zweiten mal war es noch so unheimlich, daß man den atem anhalten wollte. das knacken überall, das prasseln von eicheln, die immer nur in unmittelbarer nähe fallen, als lenke sie ein widerstrebender baumwille, das gefühl von schritten im rücken, kein eigentliches geräusch, eine sinnesunbegründete gewißheit: das ist wer! so daß man sich zwingen muß, nicht ständig erschrocken den kopf zu wenden. überhaupt das erschrecken. dieses zusammenschrumpfen aller sinne, der zeit selbst, des blutes: einmal, als ich es noch nicht kannte, das kalte glimmen zweier punkte vor mir über den weg, ein reflektorstreifen! huschte laulos zum wegrain, wo es, was immer es war, stehenblieb, und meine phantasie schlug purzelbäume, was macht ein walker mit reflektorstreifen am walkingsstock morgens um sechs am wegrain? warum bleibt der stehen? wartet er auf mich, um mir im passenden moment mit seinem reflektorwalkingstock eins überzuziehen? modernes raubrittertum? ausgebrochener anstaltsinsasse?
monate später erkannte ich, daß es eine katze gewesen war.

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kinder!
was wir hier tun ist luxus. seid froh, daß ihr hier etwas völlig zweckfreies betreiben könnt. zweckfreie dinge tun zu können, ist ein luxus, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: oder würdet ihr es vorziehen, in den trümmern einer zerbomten stadt nach eßbarem zu suchen? würdet ihr lieber kohlen klauen gehen, damit ihr abends nicht in einer eisigen hausung sitzen müßt? würdet ihr lieber betteln gehen, damit euer schwesterchen etwas zu essen bekommt? würdet ihr lieber zehn stunden im großraumbüro schreibarbeit verrichten, um eure familie zu ernähren? würdet ihr lieber im dschungel sitzen, nackt vor angst ums feuer gekauert, das die wilden tiere abhalten soll, die jenseits, im dunkeln, ihre unheilvollen kreise durch knisternde gehölz ziehen?
seid froh, daß ihr hier satt und warm und in vornehmer kleidung sitzen und euch einer völlig zweckfreien tätigkeit hingeben dürft, die ihr nur um ihrer selbst willen betreibt.
und jetzt: wie geht nochmal der ablativ der u-stämme?

mittagsprogramm

Auf dem Parkett lag ein flacher Schimmer, einer von denen, wie sie an Wolkentagen manchmal geisterhaft und dünn auf Böden, Wänden, Veilchen und Bücherregalen zu sehen sind, wo sie sich ganz kurz nur zu erkennen geben, um es sich gleich wieder anders zu überlegen und hastig zu ermatten, als habe sie eine Bewegung, ein lautes Wort, das Knacken des Fensterrahmens, ein rascher Atemzug, eine Fliege oder die Anwesenheit Verstorbener erschreckt. Das Holz schien für einen Augenblick wie poliert zu glänzen. Irgendwo oben im Haus durchkreuzten Schritte dunkler werdend ein Zimmer. Eine Frauenstimme rief etwas. Die Schritte liefen zurück. Ein schwaches Gemurmel antwortete. Es klang wie damals, wenn man einmal als Kind krank im Bett lag und das Fieber die Ausmessungen der Zimmer so veränderte, daß die Stimmen aus Küche und Flur verworren in Traum und Halbschlaf aus dumpfen Fernen ins Halbbewußtsein drangen. Abermals Gemurmel. Schritte. Tack tack teck tick, leiser werdend. Tick teck tack tack, lauter. Der Vorhang neigte sich still. Der Schein sank in sich selbst zurück, der Glanz auf dem Parkett erlosch. Die Farbe grau, so ein Grau, wie es nur nach dem Erlöschen von Licht (auf einem Parkett, auf einem schlammigen Fluß, auf Blattgrün, auf dem Meer an Wintertagen) zu sehen ist.
Endlich aus dem Radio die bekannte Harfe, das Mittagsprogramm. „Και μες στην τέχνη πάλι …“ – Müde ließ ich mich aufs Bett fallen. Eine Autohupe dröhnte leise.
Was bedeutete das alles?
Ich schlug die Hände vors Gesicht.
Was bedeutete das alles?
„Και μες στην τέχνη πάλι, ξεκουράζομαι απ’ την δούλεψή της …“

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die tage haben weniger stunden.
noch einmal …
noch einmal ein senkblei aus gedankenschwere in die wärme tauchen, ins gelb der blätter hineingreifen, nachhängen der wehmut, abschiede fußwärts in schlamm und moder hineinbuchstabieren. sonne glitzert flache gräben entlang, stirnwärts das laub wie schleifen in den himmel geknotet, sanft ins blau verschnürt die gelben pappelmeere. die weite jenseits des waldsaums füllt sich mit glockenschlag.
der herbst trägt bunte mützchen. der herbst lächelt aus knopfaugen. der herbst pflügt mit blauen und roten und gestreiften gummistiefeln durchs raschellaub. mit kinderhänden hebt er behutsam die kastanien auf. manchmal sticht er sich, bekleckert sich das jäckchen, verbrennt sich die stirn an den lichterlohen lärchen. der herbst hat ein hohes stimmchen, damit johlt er durch den wald.
und während schritte von nah und fern rascheln: noch einmal, ein letztes mal, geblendet sein dürfen und die augen gegen die wärme schließen. die stimmen klingen von weit durch den wald, und die bäume so leicht, die luft so papierdünn, daß die ferne widerhallt zwischen den stämmen; stimmen und stimmchen und hundegebell, zwischen rieselnder, niederfallender stille; da noch einmal innerlich leer werden und alles an welt in sich hineinlassen. wieder ausatmen, während man das gewicht der eigenen hand bemerkt, das leise klopfen an den türen der ewigkeit. lauschen. und dann wieder und noch einmal die schwere des wortes noch einmal fühlen.

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Astarte

da strudelt monatsweises blut,
neigte sich strömungsaufwärts
geringelt von fisch und tang und
rhodophyten und
aus den Flüssen
schwieg es wie von Silbernächten empor.

gehegtes gehege, selbstentworfnes labyrinth, irrgarten zum irrlichtern, translucide schranken, geliebte zellen, beschriftete stunden, seelendreiecke

manchmal schien es ja, daß die flüsse
sich gegen neigung und steigung und
schwere wandten.
schlangengleich trieb und benahm seelen der träume
zitternde kühle aufwärts. wolken schwammen
dahin, licht folgte auf licht, auf licht.
manchmal fiel schatten
auf die Böschungen nieder und
senkte sich tief ein ins Ried
erlöschender farbe.

so ruhte jemand. so wird auch wieder einer ruhen am flusse, geblendet vom

lächeln der ASTARTE,

ihrem ersterbenden mund. wird die lichter aus seinen augen nehmen und fortschleudern, damit nun mit den sternen er sähe. steht, wo die dunkelheit harrt wie ein tier, argus der die tagträume gefangenhält, die schüchternen kühe des waghalses. da hockts, den blitzenden leib geschlungen um verwesende tage, auf die er, und du, und wir stolz sein mochten. vergangenheiten pochen innen an venen und gefäße, von lächelgesichtern sind nur mehr Photographien übrig, züge fahren noch einmal ab, noch einmal packt man die tasche, fenster erblinden abermals, die tonnen erzittern und schütteln das wasser ringförmig aus krone, himmel, geäst. während eingedenk

der wilden der schönen der schrecklichen
ASTARTE

man den dampfenden becher führt zum munde noch einmal und abereinmal.

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Kreuzberg–Rheinbach

Es ist nur so, daß ich mit den Gedanken woanders bin. Natürlich könnte ich schreiben, natürlich fiele mir was ein – nur hab ich keine Zeit dazu, und in Gedanken zähle ich Reiherschwingen.

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In Gedanken zähle ich Reiherschwingen: Ich folge den schweren Leibern, Silbe für Silbe murmele ich ihrem Fluge nach. Ich folge der Bahn mit dem Finger; naß von stehendem Gewässer, tropf ich die träge Linie in den Wind. Den Schwingen, wie sie sich beladen mit fernem Gewölk, seh ich lange nach. Sie tragen meine Blicke in die Weiten, auf und davon —
Im Schilf die Libelle. Klappern von Flügeln.
Ein Totentanz in Türkis-moll.

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23. September 2006

Ich trete aus dem gebäude, wo die stadtbibliothek untergebracht ist; gelbgrau duften die steine; eine wasserstoffblonde frau mit einem kleinen jungen an der hand fragt an der aufsicht etwas in gebrochenem deutsch; ein missionierer streckt mir an den stufen ein jesusfaltblatt entgegen; auf der litfaßsäule prangt das wort „sex“, ein luftballon schaukelt über die dächer, ein tag wie jeder andere, ein tag für jede jahreszeit, und der himmel drückt schwer wie ein gewicht auf die stirn.
es gibt momente, da ich mich so verlassen fühle, als hätte nie jemand ein wort an mich gerichtet, nie jemand mir die hand auf die stirn, auf die wange gelegt, ein augenblick, als hätte es nie einen freund gegeben. jede erinnerung an so etwas wie wärme ist eine täuschung, und plötzlich bin ich immer schon allein gewesen. einsamkeit verästelt sich in vergangenheit und zukunft, sinnlos laufen die menschen. ein kinderwagen holpert. eine mutter schlägt ihr kind. die häuser stehen ohne schatten. zusammengesunken liegt ein bettler mehr als daß er sitzt im staub, vor den füßen hundekot, seine schwere hand leblos auf dem asphalt abgelegt, zum himmel hin die finger leicht geöffnet. eine taube pickt eine zigarettenkippe auf.
fehlt eigentlich nur noch vivaldis „winter“, wie ihn stümperhaft ein akkordeon dahinklimpert. der klang füllt die stadt, aber man bekommt es nirgends zu gesicht.
dies ist ein solcher moment nacktester verlassenheit. und während ich an den stufen stehe, das jesusfaltblatt in den händen, ist alles in bewegung. die leute laufen, kinder quengeln. aus den bäckereien duftet es, und ich weiß schon, wo meine wohnung ist, aber ist es dort nicht noch einsamer?
es gibt keinen ort mehr. wo du nicht bist, gibt es nur noch stellen, gibt es nur noch koordinaten, trigonometrische punkte, definierbar als kreuzungen, als gemeinsame zahlenwerte, als symptoten in fläche und raum, zufälliges, abstraktes, beliebiges. ein ort indes ist es noch nicht, ein ort, den man fühlen, durchmessen, umspannen könnte, wo man sich klein oder groß, beengt oder frei fühlen könnte.
so gibt es auch den ort, wo wir uns begegnet sind, nicht mehr: ich könnte die stelle wiederfinden, das schiff würde anlegen oder in den haltetrossen knarzen, und auf einer leine säße wieder eine stunde lang eine möwe, ich weiß die stelle, genauso könnte ich mich wieder hinstellen, ans geländer gelehnt, den rücken zur zukunft, die dich enthalten würde, und die züge würden wieder über die brücke donnern; aber ich könnte mich noch so oft umdrehen, du kämst nicht. und der ort hat uns schon längst vergessen. und ist zur bloßen stelle geworden.
einen ort gäbe es ja. wo du bist. da ist ein ort.
die zeit trägt masken.
seit samstag sträubt sie sich mißgünstig gegen unsere sehnsucht, schüttelt die federn aus, nimmt neue naturen an und läuft so viel träger als sonst, träger und lauter und gegen den strom unseres mühsam verhaltenen herzschlags.

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