Atalante (17)

… und dann wird sie die Schultern heben, die Handflächen mir zukehren, die Stirn krausziehen und sagen, Sieh mal, Hippomenes (und dafür liebe ich sie noch mehr: Sie wird die Vokativform verwenden), sieh mal, ich hab dich ja furchtbar gern … –, und wird dann, Vokativ oder nicht, das Wort hinzufügen, jenes schlimme Wort, Aber …
Und ich werde sie unterbrechen und sagen, ja, Atalanta, ich habe dich auch furchtbar gern, ich hab dich wahnsinnig gern, und dann werde ich einen Augenblick schweigen und versonnen nicken, immer an ihre braunen Augen geheftet, und kurz bevor ich mich endlich abwende und fort bin, werde ich hinzugefügt haben:
Nur aber ohne Aber, Atalante …

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Atalante (16)

Wenn ich mir vorstelle, daß ich das, was mich bewegt, jemandem sagen will und mir dann Atalante in den sinn kommt, als der mensch, der mir am zwingensten dafür scheint, daß ich es ihm erzähle, und mich dann dieses weihegefühl durchströmt, warm und voll stiller hoheit, so daß ich gar denken möchte, ich liebe sie –
was ist das? was ist das denn für ein gefühl, jemandem gegenüber, der sich noch durch gar nichts hat auszeichnen können, der sich noch gar nicht hat bewähren können, der noch durch keine gemeinsame geschichte geläutert wäre? Es gibt keinen grund für ein solches gefühl. Ist es vielleicht gerade deshalb so – groß?
Oder E. oder C. Was war es? Und was ist davon übrig? Was verspreche ich mir davon, es ihr zu erzählen, was mich heute so gefreut hat, was verspreche ich mir davon, sie zu fragen, ob ich lehrer werden soll? Einen rat? Oder stelle ich mich damit nur vor sie hin und sage, sei mir nah, bitte. Suche ich, weit mehr als eine antwort, ihre zuhörende nähe, indem ich mich als fragender öffne vor ihr? indem ich ihr mein ratsuchen anbiete, auch wenn sie mir diesen rat gar nicht geben kann?
Und warum aber vor ihr? Warum flößt sie mir, schon beim gedanken, ein solches vertrauen ein? Ich habe es doch schon einmal so ähnlich erlebt, als ich so aufgebracht war nach dem referat und dem treffen entgegenfieberte, um es ihr zu erzählen, und da war es, nein, keine enttäuschung, aber: eine ernüchterung.
Wenn ich nun die sehnsucht nach einer solchen frage verspüre, dann hat das doch nichts damit zu tun, daß ich Atalante auch begehre. Oder doch? Und dieses begehren, was hat es damit zu tun, daß ich den wunsch verspüre, ihr eine haarsträhne hinters ohr zu streichen, und was hat die haarsträhne damit zu tun, daß ich gerne mit ihr in einem zimmer sitzen würde, sommers, aus dem das licht langsam davongleitet, bis nur noch der schimmer auf ihren augen mir sagt, wo ihr gesicht ist? Daß ich dann gerne mit dem zeh ihren nackten knöchel anstupsen möchte und sehen, wie der schimmer sich rührt? Und was hat der schimmer damit zu tun, daß ich ihr, während sie noch schläft, einen kaffee ans bett bringen möchte, morgen für morgen, und was hat der Kaffee wiederum damit zu tun, daß ich mir jetzt wünsche, ihr von meiner freude zu erzählen? Und von dem rat, den ich von ihr vielleicht gar nicht hören will, und was hat meine frage und ihre antwort schließlich mit dem lächeln zu tun, von dem ich mir wünsche, es möge auf ihrem gesicht aufleuchten, ehe sie antwortet?

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Atalante (15)

da wär ein gewürzladen, von einer feinen hecke versponnen, goldsanfter draht ginge darum in wirbeln, büschelchen blieben zwischen ringfinger und kleinem finger haften, und die sonne ginge unter und glänzte im laub, auf den stiegen, den buchten, den verfaltungendes schattigen geländes. nebenan gäbe es bonbons und buttrigen karamel, ganz in der nähe warme brötchen mit milch, und der strand, er wäre nie weit. ein feuchter finger im wind gibt die richtung. mancherorts ein knistern wie sand und disteln, wie stroh, und manches wäre aus gras und würde kitzeln im ohr und in der nase, ja, und anderes wäre wie pflaumen und paßte genau in die hand, und schmiegte sich zweifach, glatt, kühl und warm zugleich, pflaumen mit zimttellern, umwuchert von keuscher rauke, und unweit ein traumbekannter abhang, einstülpung und gang und ein flüstern von verborgenem, an seinem fuße herabgekollert zu finden, dort wo so oft der abend ein tuch vor die blicke gehängt hätte. aus der ferne würde waffelgeruch herüberwinken, und eine gekrümmt zu tal fließende abkürzung gäb es auch, über hügel aus süßem hafer, mit nacht zwischen den halmen, einem angewinkelten graben aus nacht, die grätsche eines hohlwegs lang, und hinauf und hinab, da käme man außer atem, da ließe man sich zeit, bis die fremde wieder so vertraut wäre, wie nur die fremde vertraut sein kann. keinen der wege würd ich kennen, alle aber hätt ich wiedererkannt. so schmale flügel. schlucken im hals. kantige salbschale, ein griff in weiche sparsamkeit, in knappes schwellen, die hand würde sich füllen mit härten, von wärme umspannt, ja, so wär es, warm wärst du, du würdest atmen, und aus der nähe verschwömmen die sommersprossen, würden aus einer zwei, aus zweien vier, aus vieren acht, die strebten langsam auseinander. dann würden die nasen sich berühren, seitlich, an bebender schwinge, und kurz bevor ich die augen schlösse, zählte ich wieder eins, zwei, vier. einatmen, lange, und nie mehr ausatmen, um es nicht mehr hergeben zu müssen, während die Hände sich auflösten in deinem haar, und in deine schultern wüchsen, und dein geruch, er wäre nach nüssen und tee, sehr herb, mit einem hauch vanille, und ein bißchen buttrig, wie warme waffeln mit schmand.

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Atalante (14) Flausen an einem Sonntagnachmittag

Ich langweile mich wie ein Hund, Atalante, und dabei liegt der Tag noch in all seiner Uferlosigkeit vor mir, die vielen vielen freien Stunden, die ich mit Nützlichem füllen könnte und sollte.
Aber ich habe nur Kindereien im Kopf, und statt die Horaz-Ode zu studieren würde ich lieber deinen Strohhalm mitbenutzen, statt die Küche zu putzen lieber deinen Rock lupfen, statt die Hauptseminararbeit zu ergrübeln deine Fußsohlen kitzeln, statt den Kopf in die Bücher lieber die Nase in deine Achselhöhle stecken, und statt Lehrmeinungen würde ich lieber Speichel austauschen. Erproben, nicht ob die Konjektur stimmig ist, sondern wie deine Zunge schmecken mag. Das Buch kann ich auch später schreiben, jetzt würde ich lieber Brause in deinen Bauchnabel streuen. Siehst du, nichts als Flausen habe ich im Kopf, Atalante. Jetzt vergesse ich schon das Paradigma von σώζω, schlage zum siebten Mal das Futur von τυγχάνω nach, schütte Wasser in mich hinein, halte den Kopf unter den Blütenregen und frage mich zwischen zwei Absätzen Livius, wie du es wohl am liebsten hast; und zwischen den Stammformen von accio und accipio ist mehr als genug Platz für den schwindelnden Gedanken, wie du wohl riechen magst von Kopf bis Fuß. Und ungefähr in der Mitte zwischen beidem.
Müde blättere ich die Seite um, schlage zum achten Mal τυγχάνω nach und knabbere noch einen Keks, dabei würde ich lieber dein Ohrläppchen …
Flausen, nichts als Flausen, hab ich im Kopf.

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Solstitium (2)

einmal legte ich
die sonne ins grab

nahm sie ab
vom himmel, den sie
verhöhnt hatte

verbarg ihre härte
in einer schachtel
aus herzschlägen grob gezimmert

vergrub alles
in den schollen des windes
ließ es da liegen
unter der last
eines abgelaufenen jahres

Das Opfer (4)

er trank noch einen schluck wasser. behielt die eisige flüssigkeit lange im mund. schluckte und seufzte, rieb die füße gegeneinander, und sah dann die geschlossene tür. drehte sich um, blickte nach der zweiten tür auf der anderen seite des raums, und dachte einen herzschlag lang, die hütte habe sich um sein bett herum gedreht. dann kam ihm die verrücktheit dieses gedankens zu bewußtsein, und er lachte leise. trank noch einen schluck. kicherte.

mit einem ruck saß er stocksteif im bett, die eingeatmete luft in den lungen verpreßt, die hand um die wasserflasche gekrallt. das war kein traum, das nicht. jetzt war er wach. war wach und hörte, wie schritte sich näherten, wie etwas oder jemand an der anderen tür schabte, war wach und sah mit blankem entsetzen, wie der türflügel erst erbebte, dann mit leisem schnappen aufschwang; wie sich mondlicht grellweiß in den spalt drückte und dann in kaltem balken hereinfiel, war hellwach und sah, wie die tür weit aufschwang, in den zargen zum anschlag kam, ein wenig zurückschlug, erzitterte, stehen blieb. er fühlte den eiskalten hauch der einströmenden luft, wie sie über seine verschwitzte haut kroch, bemerkte das flimmern, als einige schneekristalle hereinwehten, und sah draußen, auf der ebene, den schnee weithin im mondschein glitzern. ein leiser wind raspelte darüber.

zögernd stand er auf. er trat in die tür, spähte hinaus. bläulichweiß ergoß sich der mond über die lichtung. der schnee war frisch gefallen und unberührt. die ferne säumte der zackenkamm der fichten. ohne des schmerzes weiter zu achten, schlüpfte er in hose, stiefel und mantel, packte die taschenlampe und sah nach der tür, durch die er am abend zuvor die hütte betreten hatte: da war unten eine halbkreisförmige abschabung, in der wand eine ritze, ein knauf. er rüttelte. die tür war fest verschlossen. einen augenblick stand er wie betäubt; zuckte dann die achseln und trat durch die andere tür hinaus. die eiskalte luft tat gut, vertrieb die trunkene benommenheit und kühlte sogar den schmerz. zaghaft machte er ein paar knirschende schritte in das weiß hinein. sollte er sich doch getäuscht haben? er blieb stehen und lauschte. warum klang der wind so merkwürdig, seine schritte so falsch? nase und ohr begannen zu kribbeln, die fingerspitzen ertaubten. hier war die ganze nacht, seitdem der schneefall aufgehört hatte, niemand gewesen, das stand fest, nicht einmal spuren von wild gab es, der schnee eine einzige unberührte, funkelnde fläche. vor sich hinmurmelnd lief er weiter bis zum waldrand, umrundete die hütte, fand nichts, probierte von außen die erste tür, sie ließ sich nicht öffnen; er wollte schon zurück zu wärme, decken und feuer, da sah er vor sich in der reinheit des widerscheins auf dem schnee, eine blindheit im geglitzer
etwas bleibt liegen.
und trat näher heran. zündete die taschenlampe. richtete den strahl auf den schatten vor seinen füßen. grinste und nickte.

etwas rundes, molluskenhaft gewundenes wie eine muschel oder schnecke, der obere rand emporgewölbt und leicht eingeschlagen, im umlauf flacher und unten in einem füßchen oder läppchen auslaufend, lag da vor seinen füßen, halb in den schnee eingeschmolzen, halb daraus emporstehend, als wäre es körperwarm gewesen, ehe es im schnee erstarrt war. die äußere krümmung schimmerte stumpfbläulich und war von feinen, veilchenfarbenen äderchen durchsetzt. rosa spritzerchen, wäßrig verdünnt wie das fischblut auf dem markt, das ins frischhalteeis einsickert, zeigten von dem organismus weg, als bildeten sie eine spur, die geradewegs zurück zur hütte führte.

er stand und lauschte. er sah seinen schatten im mondlicht, wie er aus den wäldern, die den altar verbargen, auf ihn zutrat, über die ebene glitt und sich mit seinem fuß verband. es war jetzt ganz still; nur die kleidung raschelte, als er in die hocke ging. in der mitte der fleischigen windungen, bekränzt von gewebefetzchen und kristallinem blut, leitete der äußere wulst im gegenlauf spiralförmig in eine öffnung, einen schlund, einen gang, der aus dem schnee und den tiefen darunter heraufzuführen schien. sein atem wölkte im lichtklegel, der darauf fiel.

er atmete in schnee und kälte hinein. grinste. ganz in der nähe kicherte jemand, oder vielleicht war es ein vogel, ein käuzchen, oder, nein. er selbst. er nickte. streckte dann zaghaft den finger aus, als wolle er die mulde im zentrum der spiralwindung berühren.

stattdessen aber löschte er die lampe und setzte sich in den schnee. dann hob er zögernd den arm, ungewiß, ob die bewegung gelänge, so, wie es manchmal im traum geschieht; und ertastete an der pochenden stelle hinter der schläfe, dort, wo der schmerz saß, zwischen haaransatz, schläfe und kiefergelenk, das klebrigwarme nichts.

(3)

Atalante (13) (Betrachtungen zu einigen hypotaktischen Konjunktionen)

kein als: denn sie ist jetzt
kein weil: denn sie bedarf keiner begründung
kein obwohl: denn es widerspricht ihr nichts
kein indem: denn es gibt keine gebrauchsanweisung für sie
kein solange: denn sie fragt nicht nach der zeit
kein bis: denn sie wünscht immer das ewige
kein wenn: denn sie stellt keine bedingungen
kein aber: aber ist überhaupt keine hypotaktische konjunktion.

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Atalante (12)

Aha, unterwegs bist du also. Und ich warte eigens lange, zerquäle meine Nagelhaut, lese jeden Satz dreimal, dusche, trinke Wasser, warte und warte, um nur ja nicht anzurufen, ehe du vom laufen zurückbist; und nun habe ich angerufen, und du bist schon wieder weg? Wie kann das denn sein? Du warst zwei Stunden laufen und bist schon wieder unterwegs? Deine Kraft möchte ich haben, Atalante … wenn ich zwei Stunden laufen war, lege ich mich erstmal schlafen. Hat das mit dem Älterwerden zu tun? Sehe ich jetzt Gespenster? Und warum hast du nicht zurückgerufen? Warum bin ich dir nicht einmal eine Erkundigung wert? Klar, du hattest es eilig, um zu deinen Vergnügungen zu kommen. Vergnügungen, pah! Ich habe keine Vergnügungen mehr, seit ich – und du? Du bist schon wieder fort. Und warst schon den ganzen Tag nicht zu erreichen, bist auch schon letztes Wochenende nicht zu erreichen gewesen, Samstag nicht, Sonntag nicht, zwei lange Tage nie da. Beschäftigt. Unterwegs. Tätig. Und bestimmt nicht allein. Während ich zu Hause hocke, letztes Wochenende, und dieses Wochenende, und, wenn ich nachdenke, überhaupt jedes Wochenende, seit ich weiß nicht wie lange; während ich, oh die Erbärmlichkeit! Allein ins Kino gehe, damit die Zeit schneller verrinnt … Du bist fort und amüsierst dich sicher prächtig, so gut, tatsächlich, daß du vorsorglich das Mobiltelephon stumm geschaltet hast. Macht man das, wenn man sich über einen Anruf gefreut hat und vielleicht hofft, daß der andere es mobil versuchen wird? Nein, macht man nicht. Unterwegs bist du, sagt man mir, unterwegs, wie auch schon die letzten Male, wo ich schier den Verstand verlor über der Unmöglichkeit, dich sprechen zu können. Unterwegs letztes Wochenende und unterwegs dieses Wochenende, während ich zwei Tage lang hier in meiner Wohnung sitze, die Stunden durch die Finger gleiten lasse, allein und überhaupt nicht unterwegs, und überhaupt nicht amüsiert Minuten abzählend an Fingern und Zehen. Allein und allein und allein, so allein, wie ich es nie war, ehe ich dich … so allein, daß darüber die Zeit zu einem zähen Brei wird, ein Löffelchen für den Opa, ein Gäbelchen für die Oma … Dein Leben ist so voll, scheint mir, von Menschen und Ereignissen, so reich und bunt, und meins ist leer, und da habe ich gehofft, du könntest diese Leere füllen. Was für eine Täuschung. Und zu meinen, ich könnte für dich jemand sein, der dir etwas bedeutet. Der dir etwas zu geben vermöchte, daß dir fehlt. Aber dir fehlst ja nichts, Atalante, und schon gar nicht ich. Du brauchst nichts, Atalante. Es gibt, habe ich vor Jahren begriffen, nur zwei Arten von Menschen. Die einen rufen an, die anderen werden angerufen. Du gehörst zu denen, die angerufen werden. Daß ich dir begegnen mußte!

Und selbst, wenn du dich mit mir abgeben würdest: Ich könnte dir ja nicht folgen. Ich würde mir die Abende nicht beschäftigt mit dir vorstellen, sondern zu zweit und zuhause. In diesem vielbeschäftigten, bunten Leben, das du zu führen scheinst, würde ich dich ja doch nur stören, denke ich mit Wehmut im Herzen, die dort gleich neben der Bitternis wächst.

In dein riesengroßes Leben würde ich ja gar nicht hineinpassen.

>>supra

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Das Opfer (3)

Er tastete vorsichtig nach der wasserflasche im rucksack, ohne sich allzuweit vorzubeugen, damit der schmerz fernbliebe, nestelte den verschluß auf und trank in gierigen zügen.

dichtes dunkel hatte sich ihm entgegengewölbt, als er die tür aufstieß. heraus strömte ein geruch, den er nicht benennen konnte, etwas scharf, fast beißend, ein geruch nach sauberkeit, nach strenge, nach gestärkter schürze. er betrat den kleinen raum. dunkelheit glitt über ihn hin. kaum trug das fahle dämmerlicht, das durch die weitoffne tür fiel, zur sicht bei. es fand sich aber eine kerze und auch einen kamin gab es, wie er zu seiner freude feststellte, und gutgelagertes holz. über dem kamin hing ein schmales bord an der wand, darauf stand ein einzelnes, in leder gebundenes buch. an der wand daneben ein spiegel. kerzenschein fiel durch die blanke fläche des glases und ruhte rotglühend auf seinem rechten ohr. das andere lag im dunkel des spiegels verborgen. er verzog das gesicht, wandte sich ab. auf der anderen seite war ein feldbett aufgestellt, mit einer sauberen, weißlich schimmernden matratze darauf. in der wand gegenüber dem eingang deutete eine ritze im holz, ein knauf, halbkreisförmig abgeschabter boden auf eine weitere tür; auch schien das innere der hütte in den abmessungen kleiner auszufallen als das äußere glauben ließ: hinter dieser tür lag wohl noch ein kleiner raum. öffnen ließ sie sich nicht. als er von ihr abließ, meinte er, ein leises summen zu hören, wie von einem elektrischen gerät, einem kühlschrank vielleicht, und neigte das ohr gegen den spalt. das holz kratzte, gab aber keinen laut von sich. klopfen gegen die wand erzeugte einen schwachdumpfen hall. das summen war verstummt.

er legte die sachen ab, machte feuer, breitete den schlafsack auf dem bett aus, aß und trank. später nahm er das buch vom regal, entledigte sich der kleidung und schlüpfte in den schlafsack. die tür ließ er einen spaltbreit offen stehen, da ihm die luft eng und schwer atembar schien. warm und schläfrig und eingehüllt in den flausch des schlafsacks, schlug er das buch auf. doch er hatte kaum zwei zeilen gelesen, da übermannte ihn bleischwere müdigkeit. der kopf sank ihm auf die brust, das buch entglitt seinen händen, und er schlief, noch ehe es zu boden gefallen war. das dumpfe poltern, mit dem es aufschlug, hörte er nicht mehr, ebenso wenig, wie er es später vernahm, als in der nacht die tür mit einem harten klicken zufiel.

(4)
(2)

Das Opfer (2)

plötzlich ein Schimmern von poliertem stein.

über bemooste felsen war er mühsam gestolpert, weitab vom hauptweg, war geklettert über vermodernde stämme, halbvereisten tümpeln ausgewichen, auf schlüpfrigem grund mehrfach augeglitten, hatte sich das gesicht im unterholz zerkratzt, wollte die abkürzung schon drangeben und umkehren, als plötzlich, emporgewachsen aus fichtenreisig und bräunlich verkrümmtem farn, sich vor seinem blick ein geglätteter stein erhob. es war ein schmuckloser, scharfkantiger quader mit sanft schimmernden flächen, etwa tischhoch und etwas kürzer als ein mensch hochgewachsen ist, oben in einer vorspringenden, glatten platte abschließend. die kanten waren scharf geschnitten und ebenmäßig; die flächen eben; nur der untere rand, wo das moos begann, wölbte sich etwas vor und bildete einen abschließenden reif, der den sockel vollständig einfaßte.
überlaut knackte das reisig unter den stiefeln, als er um das gebilde herumspähte, noch einen schritt, noch einen schritt, und der grund zu kippen schien, sich aufzurichten schien gegen seinen schritt. dann stand er auf der andern seite, und die wipfel der fichten schwangen wild herum in einer plötzlichen bö. die andere seite des steins war ebenso glatt und schimmernd poliert. sonnenlicht stürzte hinter den wolken heraus, über ihn hinweg, zwischen die stämme und auf dem altar vor ihm lag sein schatten. auf der wie saubergewischt glänzenden, einem opfertisch nicht unähnlichen platte war etwas, wie ein fleck, eine störung: er trat näher: dort eingegraben in der mitte, im sonnenlicht dunkel hervortretend, ein merkwürdiges gebilde, das er nicht zu deuten verstand, der einzige schmuck: etwas rundes, molluskenhaft gewundenes wie eine muschel oder eine schnecke hob sich halb aus dem stein und war halb in ihn eingelassen, der obere rand emporgewölbt und leicht eingeschlagen, im umlauf flacher und unten in einem füßchen oder läppchen auslaufend. er berührte die rundung, fuhr den windungen nach, tastete mit dem finger in die mulde, in die im gegenlauf der äußere wulst spiralförmig hineinleitete; näherte sein gesicht bis auf eine handspanne; wurde nicht schlau daraus, ließ ab, trat einen schritt zurück. er hob den arm, winkte und wiegte den oberköper ein wenig hin und her. sein schatten auf dem stein tat es ihm nach, griff sich an den kopf, krümmte sich wie in plötzlichem schmerz, stand wieder zögernd aufrecht. er wollte noch einmal ganz um den altar herumgehen, als ihn ein unbehagen beschlich. etwas kribbelte plötzlich an seinem rechten ohr, daß er heftig daran kratzen mußte. rasch wandte er sich ab und verließ den ort. unterholz knackte, die kleidung raschelte vernehmlich im auf und ab der schritte, sein atem rauschte. nach ein paar schritten ertrug ers nicht mehr und drehte sich um: da schimmerte der stein unter den fichten in schwachem widergeleucht; mittig lag immer noch ein schatten, der, von einem baum geworfen, leicht hin- und herschwang. dann erlosch die sonne und mit ihr der schatten; der stein trat ins zwielicht zurück, wo er sich auflöste und eins wurde mit dickicht und dämmerung.

erst als er wieder auf dem hauptweg angelangt war, hatte er aufgeatmet. Kurze zeit später war er auf die hütte gestoßen; da hatte es schon zu dämmern begonnen.

(3)
(1)

Das Opfer (1)

angst.
angst war. war das erste. war vor dem aufsteigen aus dem dunkel, war, noch ehe die stimmen waren, war der anfang. als die angst sich selbst spürte, da war sie schon lange zeit gewesen; und dann erst der singsang, der chor und das lachen. und gebrüll war, und heulen war. ein steigen, ein fallen. eine stimme, die sich überschlägt mit geschluchz. und immer angst, schreie und angst. halt ihn fest! da wieder singsang, heulend wie eine sirene: und da kniet einer im schnee da drückt ihm ein anderer das knie, drückt ihm den fuß in den rücken. etwas senkt sich herab. etwas blitzt. dann ein federnder schmerz. jemand hebt etwas auf. jemand hebt etwas auf. jemand hält etwas hoch. etwas fließt herab, etwas kriecht warm wie ein tier. jemand hält etwas hoch. etwas weiches fällt mit sanftem geklatsche. etwas singt. jemand schreit und schreit und schreit. schmerz zerspaltet die augen. etwas bleibt liegen. jemand brüllt. die stimmen verklingen. ein murmeln bleibt. eine ferne bleibt. ein wald.

schmerz. und immer noch schmerz und gebrüll, gebrüll allein jetzt –

jemand schrie im dunkel. schrie durch seinen mund, schrie mit seinen lungen, schrie roh aus seiner kehle, jemand hockte und schrie. jemand saß die hände aufs kissen gestützt, und jemand war er, er selbst, der seinen körper den schreien lieh, so wie er emporgefahren war in wilder bewegung; und konnte nicht mehr aufhören zu schreien, atmete und pumpte schreie zwischen dem luftholen, bis er sich verschluckte, hustete, würgte, dann pfeifend luft einsog, die er mit einem jammerlaut wieder ausstieß. er schluckte mehrmals krampfhaft, unterdrückte das wimmern, das sich immer noch aus seiner brust emporwinden wollte, schüttelte den kopf, keuchte. schloß die augen.

der schmerz blieb.

allmählich kam er zu sich: ein traum, nur ein traum, aber, himmel!, was für ein traum … und die dicke luft in der hütte, dazu noch das feuer, kein sauerstoff mehr, die zwei bier sicher auch wieder zu viel nach einem langen tag wandern, da muß man ja, muß man ja rasende kopfschmerzen bekommen … wasser wär jetzt gut. wasser ist das beste!

er hob die beine über die bettkante, was ihm stiche durch die schläfe und nacken jagte, fühlte den kühlen holzboden unter den füßen und blieb so sitzen, bis die wellen des schmerzes nachließen und nur ein dumpfes pochen auf der rechten kopfseite blieb. atmen, nur ruhig atmen. irgendwo hatte er noch eine flasche mit wasser, wo war die? plötzlich verhielt er den atem und lauschte. war da nicht wirklich eine stimme gewesen? oder war es ein widerhall der traumstimmen, stimmen aus seinem eigenen kopf, in dem der traum noch festsaß und ihm stimmen zu hören gab, die nicht wirklich waren. fernab jeder ortschaft, mitten im wald, mitten in der nacht, im winter: wer sollte das sein? er lauschte. sein magen gluckerte. ein bißchen war ihm übel. aber der kopf fühlte sich besser an. sein eigenes atemgeräusch klang komisch. verzerrt und aus einer falschen richtung, als sei es gar nicht er selbst, der atmete.

eine nach der anderen erhoben sich die erinnerungen und setzten das wachsein wieder zusammen. seine wanderung, die freie ebene, die hütte, die fichten, der altar. im kamin gloste es noch; als der traum kam, konnte er noch nicht lange geschlafen haben. wovon hatte er eigentlich geträumt. von dem ort? er erschauerte. irgendwo hatte er etwas darüber gelesen. wo nur. er bückte sich nach der stelle, wo er das buch hatte fallenlassen, als ihn unbezwingbare müdigkeit übermannt hatte; doch fand er nicht, was er suchte, und das bücken verursachte ihm abermals ein scharfes stechen im kopf. kein buch, auch gut. tief atmen, gleich geht es besser.

plötzlich ein Schimmern von poliertem stein.

(2)

Atalante (10)

Erkenntnis am sonntagabend: ein tagelanges schweigen setzt sich immer aus stunden des schweigens zusammen; die schweigenden stunden aus minuten des schweigens, schließlich die minuten aus sekunden, die schweigend verticken, eine nach der anderen. Und irgendwann sind es zwei tage geworden.

Ich gebs auf.
Fünf stunden lang versucht, dich zu erreichen. Fünf stunden lang, bis an die grenzen des wahnsinns, versucht, dem rufton irgendwelche zeichen abzulauschen, fünf stunden lang gedacht, jetzt rufe ich nicht mehr an, fünf stunden lang dann doch noch einmal angerufen. Irgendwann war es halb elf. Ich konnte nicht mehr. Ich kann nicht mehr.

Ich schreibe tagebuch, was eine qual ist. Dummerweise wärs eine noch größere qual, nicht zu schreiben. Eben nach hause gekommen, zitternd die treppe hoch, keine nachricht; angerufen, verschwitzt und müde wie ich war, die augen noch voll licht bebend im dunklen flur gestanden, tuut, tuut, keiner da. Ich kann nicht umhin, den schrecklichen gedanken zu denken: würdest du auch nur ein zehntel, einen hauch, einen wind dessen empfinden, was ich gerade … die welt sähe völlig anders aus. Jedenfalls säße ich jetzt nicht hier nach dem xten versuch, dich zu erreichen und schriebe tagebuch, weil ich sonst nicht mehr ein noch aus weiß, geschweige denn weil etwas zu tun wäre, außer, auf den nächsten versuch zu warten. So viel steht fest.

Mit größter willensanstrengung mich heute morgen zusammengerissen, losgefahren ins ahrtal, zum steinerberghaus gelaufen, nur um nicht zu hause zu warten, nur um auch etwas besseres zu tun zu haben, um auch nicht zu hause zu sein für den fall, daß du anriefest; was für ein erbärmliches vorhaben, was für ein schöner selbstbetrug, lüge, alles lüge. Ich habe nichts besseres vor. Es gibt für mich nichts besseres, Atalante, liebste, als es, was immer es ist, mit dir zusammen zu tun.

Soviel steht fest. Atalante, Meli, Schnellfüßige, Honig meiner augen. Sei mir nicht bös darum. So ist das. So ist das eben alles.

Currently playing: Górecki, Symphonie of Sorrowful Songs

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Atalante (9)

dafür bist du nicht da, die papierschnipsel meines lebens wieder einzusammeln. passen will vieles nicht mehr. scharfe ränder, ausgefranste brüche, zerschlissene falzungen, und manches gar angesengt, verkohlt, unkenntlich geworden.

das ist nicht deine aufgabe, Atalante. du kannst mich nicht retten; aber vieles wäre so viel einfacher mit dir zusammen. nein alles. und vieles möglich, wozu ich nun nicht einmal den kopf aus den kissen zu heben vermag. nicht mich retten, Atalante, aber da sein, damit ich mich selbst retten kann.

du findest diese elf jahre nicht schlimm, sagst du; aber vielleicht ahnst du nicht einmal, was für besondere gründe ich habe, sie meinerseits schlimm zu finden?

du trugst den hauch eines bitterherben parfums. hast du mich einen augenblick, so flüchtig wie der schlag eines falters, an mich gedrückt, als wir uns zum abschied umarmten im flur? habe ich es mir eingebildet? ich lächelte noch einmal schräg nach oben, ehe mich das treppenhaus aufnahm: du standest noch auf dem treppenabsatz vor deiner tür und sahst und lauschtest mir nach. ich hörte die tür nicht ins schloß fallen, solange, bis wieder nacht war.

>>supra

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Atalante (8)

gestern abend wieder langes ringen. das zimmer halberleuchtet, die amselstimmen halb drinnen halb draußen, das klavier lange verstummt. keine botschaften, nur welt. da lag ich wieder, und um mich erhoben sich abermals die bäume, die verästelungen, die verfaltungen im raum, die maserungen der stille, und ich schlug die hände vors gesicht, als könnte ich nach innen fliehen. mich einstülpend verschwinden und zu negativem raum werden, ein knäuel das weniger ist als nichts.

ich blieb und hatte gewicht. wenn ich mich regte, knarzte das bett. das herz schlug. der atem ging. die amseln jubelten. ich glaubte nicht mehr. verlor den faden, verlor alle fäden, verlor mich selbst an das schweigen Atalantes. an ihre unbekannten gedanken. die kristalle, färbungen, schatten und schärfen ihres bewußtseins. die hieroglyphen ihres wollens.

ich kann nicht mehr, dachte ich, und es war nicht das erste mal, und auch nicht, daß ich dachte, es geht um mehr als um Atalante, es geht um mehr als um liebe, es geht um mein leben. daß dieses sich nun als etwas von Atalante untrennbares, als etwas ohne sie gar nicht denkbares anfühlt, ist nur zufall. Atalante, ob ich sie nun liebe oder nicht, ist ein anstoß, ein lupe, eine landkarte. ich halte mein gefühl für echt, aber nicht alles an schmerz und verzweiflung, die ich empfinde, hat mit ihr zu tun, und ich denke, das fügt sich alles nicht. ich darf Atalante nicht als etwas wollen, daß mir mein leben wieder geradebiegt. nicht als retterin darf ich sie lieben, sondern nur als frau. dann aber muß ich sie gewählt haben. in gelassenheit. dann muß ich sie auch ziehen lassen können, falls sie mein werben nicht erwidert. ich muß: ihr ebenbürtig sein.

und genau das kann und bin ich eben nicht.

>>supra

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und nun

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und nun

… bin ich eingeladen.

der himmel ist ja blau! da ist ja … ein schmetterling! und ein zaunkönig! und lustige autos! und … in bunt!

und der asphalt fühlt sich hart und warm an, und das wasser ist kühl und löscht den durst, und die brötchen knusprig und, hej, die erdbeermarmelade ist süß, und plötzlich weiß ich auch wieder, wie man singt und pfeift und mit den fingern schnippst.

und wie das alles geht.

das alles.

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Atalante (7)

später verzogen sich die wolken und die sonne kam.
eine schar mittelalter esoteriker mit vollbart, grauem kurzhaarschnitt und, manche, bunten tüchern um die schultern, schwärmte gerade aus, um blumen zu pflücken. froh, nicht der einzige spinner zu sein, ließ ich mich am rand des tempels nieder und sah ihnen zu, wie sie sich wieder versammelten und einen langsamen reigen begannen, wozu sie eine anrufung, ein gebet, eine beschwörung sangen, alumne, alumne … alumne, alumneeee, und ihre ineinandergefaßten hände hoben und senkten. ich nutzte den augenblick, da sie selbst zu beschäftigt waren, um auf mich achtzugeben, erhob mich und näherte mich dem verwitterten stein und den drei gestalten. Ich öffnete die flasche und und ließ den wein dunkel über den altar fließen. die poren des steins nahmen die nässe zur gänze auf.
ein endloses wochenende und einen feiertag hatte ich durchkämpft und durchlitten. ich hielt mich selbst nicht mehr aus, meine gedanken nicht, die fragen, die im kreis schreitend zu keinem ende kamen, die wände nicht, die worte nicht, die ich für meine geschichte abwechselnd sammelte und wieder verwarf. die rotschwänze nicht, den amselgesang nicht. meine eigenen erinnerungen nicht. schließlich packte ich den rucksack, brot, käse, wein, filzschreiber, und floh in lodernder verzweiflung aus dem haus. ging in den wald, suchte und fand in einer geröllhalde einen flachen stein, spülte ihn in einer pfütze ab, ließ ihn an der luft trocknen; schrieb dann einen atemlosen hexameter darauf und wanderte eine stunde zum tempel. dort legte ich ihn ab bei den Aufanischen Göttinnen und in ihre hände das weitere,

NVMINA ADESTE IVVATE FAVETE QVOD ARDET AMORI.

später habe ich geweint.
die wolken lösten sich und die sonne kam. geändert hat sich nichts.

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<<infra

zweifel

episteln: an meinen bruder

Brüderchen,

Heute nacht hatte ich einen seltsamen traum: in meinem zimmer bemerkte ich eine spinne, die aus irgendeinem wirrwarr von geräten oder schachteln herauskrabbelte. sie hatte einen runden, hellgrauen körper und sehr lange dünne beine. als sie an der wand über meinem bett angelangt war, war ihr körper gedrungener geworden, der hinterleib länglicher, ihre farbe dunkel, und die beine waren jetzt dick, wie die von solchen spinnen, wie sie gerne unter kellertreppen wohnen … panisch wich ich zuück, ich kannte diese spinne, sie hatte mir schon einmal einen schrecken eingejagt, sie war über ein jahr in meinem zimmer gewesen, ohne daß ich es bemerkt hatte … ich rief nach dir. du warst irgendwo draußen, im nebenzimmer, auf dem flur, jedenfalls im haus. du kamst herein. als du die tür öffnetest, hockte die spinne darüber. ich hatte einen kurzem augenblick angst, sie könne auf dich herabfallen, aber du tratest unbeschadet durch die tür, kamst zu mir, und ich deutete auf das tier, das mittlerweile die ausmaße eines zwergpudels angenommen hatte und von tiefschwarzer farbe war. ich glaubte, du würdest dich fürchterlich erschrecken; zu meinem riesengroßen erstaunen aber gingst du ruhig zu der spinne hinüber, packtest sie mit beiden händen an einem beinpaar, so wie man einen stier bei den hörnern packen mag, durchquertest an mir vorbei das zimmer und schleudertest das ding aus dem fenster in den hof. ich war gerettet.

Bester retter und spinnenbändiger, glücklich erwacht bin ich

Dein TTh

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