Atalante (6)

Und da war aber alles: wie immer.
und da war aber alles: etwas mehr als sonst.
gelacht haben wir viel und viel geredet und übereingestimmt und übereingekommen. daß wir uns sehen. nach pfingsten. vielleicht am wochenende.
in blinzele in den regen.
ein kind ist ertrunken. der himmel lacht schallend. der teufel trägt eine schellenmütze. so ist das.
ich trinke wieder wasser, ich trinke wieder wein, ich bitte um drei äpfel.
ich trinke wieder von der zeit. und vor meinem fenster blüht ein herrlicher busch, der war gestern noch nicht da.

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Atalante (4)

hänge den kopf in den wind, fülle das herz mit regenwasser, lese schritte aus pfützen und schreibe traurige listen, mit was du wie gesagt hast, „wir müssen mal“, „laß uns doch“, „ da müssen wir unbedingt auch mal“. und wie du es gemeint haben könntest. und warum nun das schweigen. ich fertige die vorläufige inventur einer bekanntschaft an. ergebnisprotokolle. wortkataloge. blickaufstellungen. bilanz: im unklaren. „mal am wochenende“, „spätestens Mittwoch“ … ja, Atalante-Melanie, ja.
es regnet. seit wir uns verabschiedet haben, regnet es, selbst dann, wenn mal die sonne scheint. warum hab ich dich nicht mehr gesehen, neulich, gegen das licht der straßenlaterne. ich kam auf den bahnsteig, da warst du schon weit voraus und im licht verschwunden, in der tiefe des raums. alles will mir ungünstiges vorzeichen sein.

gestern am grab von Jennifer Held. die Amseln juchzten vor schmerz. zwischen den schatten der bäume sammelten sich wandernde gruben aus licht, und ein wind strich mir über die tränen. warum glaube ich mir unseren donnerstagabend nicht? war etwas, das ich nicht benennen kann, ein verborgenes wort, eine im augenwinkel festgefahrene bewegung, ein blick, den ich schon vergessen habe, was ist es, das mir jede zuversicht fortnimmt?

listen, listen. punkte sammeln. was du tust, was du nicht tust. was ich täte. was du nun unterläßt, aus gründen, die ich gar nicht wissen will. was ich täte, wenn … doch du tust es nicht. die bäume sind mir gleichgültig. nichts ist wichtig. nichts ist wirklich. die welt ist nichts als ein schatten, den du nachlässig wirfst.

ich hänge den kopf in den wind, schreibe die liste fort. wache auf, wie ich einschlief, mit Mela-Melie auf den lippen, dem schwarzen honignamen. die decken duften nach einsamkeit. und die einsamkeit hat nun einen namen.
ich würde … ich würde … was darf ich erwarten, was muß ich erwarten? vielleicht sind worte nicht deins. aber wie kannst du verplante tage haben, wo wir uns gerade näher kennenlernen? seit ich dich kenne, habe ich keine verplanten tage mehr … habe überhaupt weder pläne noch tage. warum schlägst du nicht stattdessen etwas anderes vor? weil: und das will ich nicht aussprechen. das steht quer. und doch flüstere ich es
„weil …“

und mein herz füllt sich wieder mit regenwasser. schlage etwas vor, Atalante, ich habe keine pläne. meine tage sind leer und öd, zu verlieren gibt es nicht viel, stell du die bedingungen.

und ich werde um dich laufen.

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Atalante (3)

To clear the river, John Berrington. So ist das nun. Eine schöne Geschichte. Der Regen. Der Musikpavillon. Der verliebte, in Zweifel verstrickte, ängstliche Erzähler. Kürzlich meinem alten Englischbuch aus der 8ten Klasse wiederbegegnet; in der Nachhilfeschule, wo ich unterrichte, lag es in einem Stapel mit Aussortiertem. Ich schlug es auf und erinnerte mich sofort, nein ich kannte ja die Geschichte, bis in einzelne Formulierungen hinein, wie mir erst jetzt aufging: “you’ll get into trouble”, All he knew was that he was in love — Nun las ich sie abermals, und wie es manchmal so geht: Diese Geschichte muß mir schon damals, mit vierzehn, etwas zu sagen gehabt haben, jedenfalls habe ich sie nie vergessen.

Morgen schon. Der Weiher mag als Fluß herhalten. Müll ist überall genug. Schüchtern bin ich sowieso. Wie ich es geschafft habe, dies Treffen vorzuschlagen, weiß ich schon nicht mehr.

Vielleicht regnet es sogar. Morgen.

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Atalante (2)

noch einmal einmal noch
(Peter Rühmkorf)

als wäre es das letzte mal vor jahren gewesen, so scharf und frisch ist es nun. ich verstehe es nicht. woher kommt diese macht, die mir den atem ausdünnt, mir träume aufgibt, meinem herzen verrücktheiten befiehlt? wieder ist Mittwoch. der erste Mittwoch jenseits. letztes mal war noch alles gewöhnlich. keine fragen, keine antworten. irgendwann dazwischen ist etwas geschehen, ich weiß nicht was, nicht wann. ich weiß nur, daß ich mich wieder an den minuten reibe, alle augenblicke auf die uhr sehe, in die sonne blinzle und, passe ich nicht auf, wälderweise sehnsuchtsbäumchen pflanze. ist das zu glauben? nein. wer zehnmal liebt, dem glaubt man nicht. ich glaube mir das alles selbst nicht. und möchte es aber glauben.

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Atalante (1)

wieder alles anders. neue wege plötzlich aufgeschienen, neue blicke. du also. wie kann das sein. ein briefchen hier, ein lachen da, eine halbe stunde im sonnenlicht beim kaffee. John Donne und Nabokov. du also. seit monaten gehen wir nun jede woche in die mensa, aber es war nie die frage … diese frage nie. warum jetzt, wie jetzt, wie kommt das alles? ein gruß hier, ein wunsch da, ein blitzender löffel auf dem tisch. du also. Mela-Meli. nenne dich Schwarzäugige. Schwarznamige. nenne dich Atalante-Atalanta. ein ängstlicher Melanion-Hippomenes, rüste ich mich zum lauf.

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Sæby (2)

Nie ist das Drinnen so sehr drinnen wie zu jener Stunde, nie das Draußen so sehr draußen. Das Fenster ist eine Grenze; nacht aber ist es auf beiden Seiten. Nacht ist es in aller Welt. Die Welt selbst ist Nacht.

Ob die Stimmen schon immer da waren? Haben sie ihn geweckt, ihn heraufgelockt aus bewußtlosem Schlaf?
Ja, sie zogen ihn herauf und ans Fenster und waren: draußen und fern. Von jenseits des Schlafes herangeweht. Nicht zu ihm gekommen. Nicht zu ihm. Aus unerkannten Fernen, nach verborgenen Plänen handelnd, waren sie dorthin gekommen, wo auch er sich zufällig aufhielt. Und er war in den Begrenzungen von Zimmer, Haus und Mauer gefangen, auch ins Eigene gesperrt. Sie wußten nichts von ihm. Sie werden auch nie etwas von ihm wissen, oder von irgendeinem andern, der am Fenster steht. Sie brauchen nichts. Sie gehören auch nicht zur Nacht, sie gehören nur: sich selbst. Und sie singen. Sie singen sich selbst zur Freude.
Sie füllen den Wald mit Klang und Wundern, entfernen sich, verlieren sich, verstummen und lösen sich auf in der Stofflichkeit der Nacht, noch einmal klingt es auf unterm den Mondfäden, in der Tiefe der Bäume, dann fallen sie zurück ins Dunkel, aus dem sie getreten waren, und das sie nun wieder hält und birgt. Und das Kind, die Nase am Fenster plattgedrückt, zum ersten Mal ist es allein.

Den Tag wieder

Den Tag wieder verwürzt mit Salz, bis die Zunge erstarrt unter Verkrustungen, und die Sonne, die Sonne …
Lechzend das Kissen abgeleckt, glühend vor Wißbegier. Süßholz geraspelt überm Steg, drauf die Blüten abfielen, als hätte der Frühling seine Prothesen verloren. Ich will, ich will, ruf ich zur Amsel, die aber packt ihre Stimme ein, wirft mir ein Keckern zu und ist fort.

In der Stadt (Atalante)

Vor so viel Licht die Hände vors Gesicht schlagen.
Nein, es ist nichts passiert. Vollmond war, und zur Abendstunde öffneten sich rostige Gitter zu Löwenzahn und Fliederduft. Farbe blätterte von der Sonne ab. Verquollene Holzlatten, Kastanienkerzen, Traubentage. Spielzeug vergaß zwischen hohem Gras seine knallbunten Farben, ein Roller, ein Schubkistchen, ein Schäufelchen, abgelegt, ein vergessener Sommer, verstoßener Gefährte August. Eine Zeder roch nach Süden nahebei. Später kam der Wind aus blankgefegtem Himmel und blies uns den Wein aus den Gläsern. Viele Schritte durch eine laute Stadt geschleppt. Überall lagen die Sonnenstrahlen überkreuz, der Asphalt gleißte, die Bäume schüttelten Licht aus, und obwohl ich Dich nicht traf

ich will umhergehen auf den gassen und straßen und suchen, die meine seele liebet

war ich froh: endlich war ich doch dort gewesen, wo Du jetzt wohnst, an Deiner Tür, mit einem Blick schon im Flur; und ein Wort hatte ich dagelassen,

habt ihr nicht gesehen, die meine seele liebet?

das mußt Du jetzt aufnehmen und zurückspielen, oder aufsaugen und verschlucken und auslöschen in der Nacht Deines Schweigens. Ich komme nicht mehr, sage ich mir, und meine, daß ich wieder kommen werde, ich will umhergehen auf den gassen und straßen …

am abend

wieder vergnügungen mit spielzeug, in dampfwarmen decken, zwischen singenden wänden, und draußen wimmelt es unterdes emsig von frühling. stimmen von weither, bienen, die an die scheiben torkeln. ein schweißtropfen sammelt sich auf der abgewandten stirn. abgewandt auch der atem, zur seite, leicht angewinkelten arms ein und aus voll tagesmüdem duft, und aus der gehöhlten beuge steigt des verlebte des tags, süß und unwiederbringlich. darüber die verschwielte braue und die heiße stirn, die braue, die sich später, am ende, zusammenziehen wird in der anstrengung des beschwörens … vertrauter raum geht auf zwischen muskel und gelenk und dem beginnenden pochen, in sich eingesunkenes entspanntsein, vertraute strecken, vertraute wege, wissend wo man auskommt, wie weit die finger reichen, und die spitzen der zehen, und die gedanken, die pfade im dschungel, die verwinkelungen fremder zimmer bekannt-unbekannter körper, antlitze, blicke. strecken soll man sich, auch die bilder strecken, und ausfüllen und hineinwachsen in sie, und in die dämmervolle luft, und sie auch einlassen, ein, ein, aus, ein. bald rascher. bald von allein. so tun und abermals so tun als gäbe es etwas zu entdecken an sich selbst, ja, als könnte man sich vor sich selbst verbergen, mit sich selbst schach oder dame spielen und aus dem verborgnen wieder überraschen, um an sich selbst heiße zeilen zu richten, die dann, später, wenn das licht gedämpft ist, zurückführen zum altvertrauten ritual, das sich selbst nur zum feiern hat. bis dann, noch ein wenig später, wieder stille einkehrt und die luft zu frösteln beginnt auf der betrognen haut.

für Melanie F.

die geburtstagsfeiern, damit man die worte nicht vergißt.
die straßenbahnen, damit man die blicke nicht vergißt.
die blicke, damit man das verlangen nicht vergißt.
die nächte, damit man den mond nicht vergißt.
die uhren, damit man den tod nicht vergißt.
das schreiben, damit man die unsterblichkeit nicht vergißt.

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lärm

erwacht aus tiefstem schlaf.

zwischen den stimmen im hof und dem radiosprecher von heute keine erinnerung. ich weiß noch, daß ich das fenster zuschmiß, verärgert über das palaver von unten, das in den schon beginnenden schlummer hineingewachsen war und mich wieder emporgetragen hatte. ich weiß noch, daß ich mich ärgerte. als ich abermals erwachte, war es schon hell, und die luft im zimmer stickig.

nicht einmal in meinem eigenen heim mehr geschützt und sicher. erst die invasion der mofa-jungs, die nun schon seit über einem jahr den hof besetzt halten mit ihrem motorgedröhn, dem alarmanlagengepfeife, dem werkzeugklirren, dem rufen, dem lachen, dem pfeifen, ja schon die schritte stören mich. dann die waisenkinder von gegenüber, die sonntags früh im sommer etwas, das sie vermutlich als musik bezeichnen würden, mit stillschweigender billigung der heimaufsicht aus den offenen fenstern quellen lassen, so laut, daß auch ein geschlossenes fenster keinen schutz bietet, und wer will schon an einem sommermorgen das fenster schließen? die waisenmädels nicht. ich auch nicht, aber ich verbreite ja auch keinen lärm. und nun kommt man auch noch überein, daß der hof sich trefflich eignet, um daselbst nachts zu plaudern und sich dem drogenkonsum zu widmen; der zigarettenqualm drang bis in mein zimmer. ich weiß ich weiß. manche menschen haben um 21 uhr feierabend. ich aber nicht. ich liege zu der zeit schon im bett und gehe hoffentlich bald darauf schlafen.

gibt es eigentlich noch menschen, die die heilige STILLE zu schätzen wissen? oder sind sich mittlerweile alle einig, daß allerorts nur noch der geschäftige LÄRM zu herrschen habe?

immerhin bin ich so früh dran, daß werktags nicht schon beim kaffe unerwünschte geräusche auf mich einprasseln. lange geht das aber nicht so, und gerade jetzt, wo ich noch nicht wieder fahrrad fahre, beginnt das martyrium schon lange, bevor ich im zug sitze. was treibt eigentlich einen menschen dazu, sich morgens um halb acht, unausgeschlafen und einen langen, ermüdenden tag vor sich, einen höllenlärm mittels eigens dafür ersonnener kopfhörer in den gehörgang zu hämmern? es wäre mir ja egal, aber das geprassel ist leider im ganzen bus hörbar und ausgesprochen nervtötend. tut mir leid, daß ich nicht so viel widerstandskraft habe wie dieser junge mann neben mir und mich schon durch das vergleichsweise leise rauschen aus der fassung bringen lasse. aber ich kann nicht aus meiner haut.

obwohl ich die dinger selbst benutze, verfluche ich ihre erfindung; streichholzschachtelformat und -gewicht, speicherkapazität von mehreren stunden musik und ebensogroße batterieleistung haben dazu geführt, daß pro zug, bus oder straßenbahnwagen drei bis fünf der dinger anzutreffen sind. alle in betrieb, versteht sich. ein abflauen dieser tendenz ist nicht zu erwarten. umsonst hoffte ich schon ende der neunziger jahre bei den mobiltelephonen. die sich leider auch nicht als bloße modeerscheinung entpuppten. einmal nahm ich meinen eigenen kopfhörer aus dem ohr und legte das ding neben mich. es war kein laut zu vernehmen. wie machen das die anderen?

und so geht es weiter. gebimmel, gefiepe und neuerdings auch regelrecht musik (oder was die urheber so nennen würden) aus mobilfunkgeräten, getute aus spielcomputern, autolärm und mp3-spieler sind nur einige beispiele für eine um sich greifende verlärmung des öffentlichen und nun auch des privaten raums, die dazu führt, daß ich mich zunehmend vertrieben fühle aus einem (imaginären?) paradies der stille.

Kirschblüten parodieren sich selbst (wie jedes Jahr …)

es gibt nichts zu sprechen. weder inwändig noch auswändig. weder zu menschen noch zu pilzen, noch zu wasserfällen, falls es irgendwo noch welche geben sollte, nein, worte sind nicht, und das leben spielt sich ab zwischen pflasterstein, tastatur, bier und bett, höhepunkt der woche ist die sonntägliche masturbationssitzung. im wortsinne.

ein baufahrzeug hängt in den scheiben, unsichtbar, drängelnd. überall wird jetzt gebaut, als wüßten sie alle genau, wofürs gut ist. ich weiß es jedenfalls nicht, und so erscheint mir das alles albern und wichtigtuerisch. kirschblüte parodiert wie jedes jahr ihren eigenen kitsch. wahrscheinlich weiß sie, wofürs gut ist. aber käme nur noch auf platz zwei.

so sind die zukünfte: banal. die wege geben nichts zurück von dem, was man ihnen überließ und überläßt, tag für tag, die hoffnungen sind alltäglich und maßlos. herrlich, wie spaßhaft das alles ist. nichts verpflichtet. morgen ist ja auch noch ein tag.