Kopf voll Draht

„Die Jugendlichen heutzutage können ja nicht einmal mehr einen ordentlichen Satz bilden“, sagt Herr S., Studienrat mit Doktortitel und nebenbei Dozent an der Universität einer größeren westdeutschen Stadt. „Hören Sie sich das mal an“, fährt er fort, „Zack!, Rums!, Schrei!, Stöhn!  – wie wollen Sie denn das überhaupt grammatikalisch beschreiben? Das ist mit der Grammatik überhaupt nicht analysierbar.“
Mit der Grammatik? Welcher?
Herr S. ist ein hochgebildeter, hochkultivierter Mensch und kennt sich in lateinischer und griechischer Literatur ebenso gut aus wie in Mythologie, europäischer Literaturgeschichte, Archäologie, Stahlerzeugung oder Kohlebergbau. Ich verdanke ihm so manche Einsicht in das Geistesleben der Antike und die herrliche Vokabel abteufen.
Aber leider hat er nicht die geringste Ahnung von den allerbasalsten Grundlagen der Sprachwissenschaft – bei seinem Fach ein echter Verlust. Und was er über die Sprache der Jugendlichen von sich gibt, ist, ja, es tut weh es auszusprechen, hanebüchener Blödsinn. Hier ist leider der Studienrat mit ihm durchgegangen und über Mauer und Graben gesprengt.
Ich vermute, daß Herr S. die griechisch-lateinische Grammatik meint, wenn er von Grammatik spricht. Damit kann man die griechische und lateinische (Schrift!-)sprache beschreiben, was nicht Wunder nimmt, da sie an jenen Sprachen entwickelt wurde und auf sie zugeschnitten ist. Es gibt aber keinen Grund, warum man damit irgend eine andere Sprache erfassen können sollte. Bei einem solchen Versuch können dann so treffliche Ergebnisse herauskommen wie die Kasuslehre einer mittelamerikanischen Sprache, wie sie ein gewisser Missionar des 16. Jahrhunderts (ich habe vergessen, wer und was für eine Sprache das war) formuliert:

Nominativus: pilpilo
Genitivus: pilpilo
Dativus: pilpilo
Accusativus: pilpilo
Ablativus: pilpilo
Vocativus: o pilpilo!

Wer nun vermutet, daß hier eine fehlgeleitete Analyse vorliegt, die an den tatsächlichen Verhältnissen dieser Sprache vorbeigeht, könnte recht haben. Man kann sich denken, daß derartige Höhenflüge europäischen Scharfsinns nicht gerade dazu beitrugen, indigene Sprachen als Sprachen überhaupt ernst zu nehmen.
Herr S. begeht eine Todsünde nicht nur der Linguistik, sondern jeder empirischen Humanwissenschaft, indem er nämlich Deskription mit Präskription verwechselt. Wenn ein sprachliches Phänomen, sagen wir, die Comicsprache von Jugendlichen, mit einer Grammatik nicht beschrieben werden kann, dann bedeutet das, daß die Grammatik zu schwach ist und so modifiziert werden muß, daß sie den Phänomenen Rechnung trägt.
Schon die Einheit des Satzes, die Herr S., und mit ihm ein Heer von Sprachpflegern, die den Untergang des Abendlandes prophezeien, als Grundeinheit und sprachliches minimum morale beschwört, ist vom Standpunkt gesprochener Sprache aus hochproblematisch, wenn nicht sogar unsinnig. Der Satz ist ein Ergebnis, ein Konstrukt der Schriftlichkeit. Er ist ein Postulat, eine stilistische Norm – im mündlichen Ausdruck aber kein Normalfall. Insofern ist eine Grammatik von Sätzen eine Grammatik, die ohnehin nur für den Teilausschnitt geschriebener Sprache und für wenige Bereiche der gesprochenen Sprache Beschreibungsmacht hat. Und selbst in Schriftsprache bleibt der Satz als Analyseeinheit problematisch, da seine Definition recht unklar ist. Zu sagen, was die Jugendlichen da fabrizieren, sei keine „echte“ Sprache, oder kennzeichne einen Verfall, einen Niedergang, weil es mit der Grammatik (was auch immer für eine) nicht beschrieben werden könne, ist gerade so, als behaupte man, Quantenphänomene seien gar keine echten physikalischen Erscheinungen, weil sie nicht durch die Newtonschen Mechanik beschreibbar seien.
Die Elektronen wird das kaum beeindrucken.
Die Jugendlichen auch nicht.

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