kall–satzvey

der weg führt an zeichen vorbei, er lehnt sich sanft an uralte zeit, hat sich blinden göttern verschrieben, tempeln, die kiesel, erde und wieder baum geworden sind, tiefverwurzelten fundamenten, umgestülbten gewölben, treppen, die in einen acker, in binsen, in weidengestrüpp führen, oder in den leeren himmel. die altäre haben die götter vergessen, stumm und taub luden sie schatten auf schatten ins opferbecken, blinzelten ins licht der sommer jahr um jahr, verdämmerten unter schnee, ließen sich aufreiben vom wind und vergaßen endlich auch sich selbst. laub ruht nun zwischen stein und moos, und mancherorts, versteckt im wald, geduckt in den schoß eines grabens, halten gemauerte bögen dunkelheit im maul, um das sich kalksinter schalt. spräche man, riefe man in die öffnung, es käme nichts wieder, man bliebe mit der eigenen stimme allein. das blitzlicht tritt nur wenige schritte vorwärts, dann kommt es plötzlich zum halt.
anderwegs, eine viertelstunde richtung satzvey, krümmt sich der weg unter an- und abschwellenden lärm. die autobahn, ihr dröhnender schatten liegt wie dünung über dem rain.
artemis-kraut knistert im spröden wind. überm graben, im gesperr der schlehenzweige, wedelt einmal kurz die sonne, dann kommt der schatten zurück und die wolken hängen wieder feuchtnah überm pfad. abgetropft aus nacht und dunkel wuchern blickauf die raben in den baumkronen, lassen ihre schreie los, zerpflügen den frost, streifen den himmel, ein schwung, eine schwinge. gegenlicht: der schimmer bemeißelt ihren schnabel.
eine viertelstunde weiter, im tal, hat eine halbe brücke ihre bögen aus dem hang gespreizt. die mit Eichen bewachsene Steigung führen stufen aus holzbolen hinauf, in jugendliches gelächter, bunte daunenjacken, zerschabte kunstfaserrucksäcke und drei gelangweilte gesichter. plötzlich schweigen sie und starren, mit masken vor der blässe des wintergesichts. der brückenbogen ist mit einem gitter verriegelt. wasser floß hier über wasser einst. ein strom über dem strom. jetzt führt die trasse geradewegs starr hinaus in den himmel. die kinder albern, ihre kicherlaute zirpen wie vögel. vor dem fuß, versunken in laub, erde, abfallpapier aus einer zeit nach allen zeiten, entkneift sich der austritt gerade so eben dem erdreich. so lange floß hier wasser, daß stein wuchs im strom, eine koralle geronnenen äons. zeitungspapier ballt die faust, zehn tage regen und wind, die schrift kaum noch zu lesen. spuren: eine tiefblaue wasserflasche, aufgerissenes kunstoffbriefchen, zigarettenstummel. darüber zeigt, unter moos versteckt, das mauerwerk seine einzelnen steine. zwischen den greisen ziegeln und der zeitung von gestern: ein nichts, ein trockener hauch. wie nah man ihm auch kommt, der stein ist immer ein stück weiter. irgendwo rieselt erde.
die kinder sind fort. aus der ferne schlagen die glocken.

Der Mozart-Hype. Ein Hörerbrief

Sehr geehrte WDR3-Redaktion!

2004 war das Petrarcajahr. was für ein wirbel! erinnern sie sich? nein? schon monate vor seinem 700. geburtstag (am 20. juli 1304 ) waren die buchbesprechungen voll von neuen petrarcapublikationen, die neuerscheinungen von hörbüchern mit seinen sonetten und canzonieren wuchsen zur flut, in den auslagen der buchhandlungen war kaum noch platz für andere veröffentlichungen, auf den büchertischen stapelten sich biographien, bildbände („Petrarcas Toscana“, „Der Mont Ventou in den Augen des Dichters“) und bibliophile werkausgaben. es gab lesungen, dikussionsrunden, fernsehsendungen, einen kinofilm und die konditoren erfanden eigens die petrarcakugel.
nein?
nein, so war es nicht, und man darf froh darüber sein, daß uns ein solcher wirbel erspart geblieben ist. andererseits: daß dem WDR der geburtstag des mittelalterlichen dichters damals kaum eine knappe meldung in der sendung „mosaik“ wert war, stimmt nachdenklich, manch einen zeitgenossen gar traurig. noch trauriger aber mag einer werden angesichts des bunten treibens, das der 250. geburtstag Wolfgang Amadé Mozarts dem WDR jetzt wert ist.
vergeblich hätte man im jahr 2004 ab und an ein Petrarcagedicht zum tagesbeginn erwartet, doch schon seit jahresbeginn hören wir, damit man es auch ja nicht vergißt, pünktlich um halb acht einen brief des komponisten, gelesen von Klaus Maria Brandauer. abgesehen davon, daß Klaus Maria Brandauer diese aufgabe hervorragend löst, gehören die briefe mozarts nun wirklich nicht zu dem, was man als litarischen höhenflug bezeichnen möchte. im anschluß erklingt, wie könnte es anders sein, ein mozart-stückchen. mozart hier, mozart da, mozart früh, mozart spät. mal ein kleiner beitrag zu seiner biographie, dann wieder vernimmt man von der „therapeutischen wirkung“ seiner musik. verkausfördernde mystik. in den „resonanzen“ wenig später ein beitrag über die „botschaft der zauberflöte“. klar, welches werk sonst. selbst der WDR schlägt in die bresche der mozart-gassenhauer. seltsam, daß die „Kleine Nachtmusik“, wie die streicherserenade nr. 13 in D-Dur, KV 525 meist genannt wird, noch nicht zu hören war.
wenn der kommerz die bekanntheit Mozarts ausschlachtet, so mag das hingehen; was aber verleitet eine öffentlich-rechtliche rundfunkanstalt dazu, den wirbel mitzumachen? und wenn sie ihn mitmacht: was hält dieselbe rundfunkanstalt dann davon ab, künstlern, die für die kulturgeschichte des abendlandes mindestens ebenso bedeutsam wie (womöglich aber noch bedeutsamer als) mozart waren, die aufmerksamkeit zum runden todes- oder geburtstag fast vollständig zu verweigern?
man verstehe mich nicht falsch: es geht nicht darum, die musik mozarts und ihren künstlerischen stellenwert schmälern zu wollen, im gegenteil. es sollte nur einen ort und eine institution geben, wo die leistung eines künstlers unabhängig von seiner kommerziellen ausschlachtbarkeit, seiner allgemeinen beliebtheit oder seiner bekanntheit gewürdigt wird; eine instuitution, die einem künstler jenseits aller publikumsvorlieben diejenigen ehren erweist, die ihm nach meinung dieser institution als künstler zukommen. schließlich könnte es ja auch darum gehen, nahezu vergessenen größen zu ihrem verdienten ruhm und zu breiterer bekanntheit zu verhelfen. wer, wenn nicht ein öffentlich-rechtlicher sender wie der WDR, der sich in seinen werbefreien programmen um einschaltquoten nicht zu scheren braucht, könnte dies leisten?
dann hätten wir nämlich auch ein schönes Petrarcajahr gehabt.

mit freundlichem gruß
T. Th.

Kopf voll Draht

„Die Jugendlichen heutzutage können ja nicht einmal mehr einen ordentlichen Satz bilden“, sagt Herr S., Studienrat mit Doktortitel und nebenbei Dozent an der Universität einer größeren westdeutschen Stadt. „Hören Sie sich das mal an“, fährt er fort, „Zack!, Rums!, Schrei!, Stöhn!  – wie wollen Sie denn das überhaupt grammatikalisch beschreiben? Das ist mit der Grammatik überhaupt nicht analysierbar.“
Mit der Grammatik? Welcher?
Herr S. ist ein hochgebildeter, hochkultivierter Mensch und kennt sich in lateinischer und griechischer Literatur ebenso gut aus wie in Mythologie, europäischer Literaturgeschichte, Archäologie, Stahlerzeugung oder Kohlebergbau. Ich verdanke ihm so manche Einsicht in das Geistesleben der Antike und die herrliche Vokabel abteufen.
Aber leider hat er nicht die geringste Ahnung von den allerbasalsten Grundlagen der Sprachwissenschaft – bei seinem Fach ein echter Verlust. Und was er über die Sprache der Jugendlichen von sich gibt, ist, ja, es tut weh es auszusprechen, hanebüchener Blödsinn. Hier ist leider der Studienrat mit ihm durchgegangen und über Mauer und Graben gesprengt.
Ich vermute, daß Herr S. die griechisch-lateinische Grammatik meint, wenn er von Grammatik spricht. Damit kann man die griechische und lateinische (Schrift!-)sprache beschreiben, was nicht Wunder nimmt, da sie an jenen Sprachen entwickelt wurde und auf sie zugeschnitten ist. Es gibt aber keinen Grund, warum man damit irgend eine andere Sprache erfassen können sollte. Bei einem solchen Versuch können dann so treffliche Ergebnisse herauskommen wie die Kasuslehre einer mittelamerikanischen Sprache, wie sie ein gewisser Missionar des 16. Jahrhunderts (ich habe vergessen, wer und was für eine Sprache das war) formuliert:

Nominativus: pilpilo
Genitivus: pilpilo
Dativus: pilpilo
Accusativus: pilpilo
Ablativus: pilpilo
Vocativus: o pilpilo!

Wer nun vermutet, daß hier eine fehlgeleitete Analyse vorliegt, die an den tatsächlichen Verhältnissen dieser Sprache vorbeigeht, könnte recht haben. Man kann sich denken, daß derartige Höhenflüge europäischen Scharfsinns nicht gerade dazu beitrugen, indigene Sprachen als Sprachen überhaupt ernst zu nehmen.
Herr S. begeht eine Todsünde nicht nur der Linguistik, sondern jeder empirischen Humanwissenschaft, indem er nämlich Deskription mit Präskription verwechselt. Wenn ein sprachliches Phänomen, sagen wir, die Comicsprache von Jugendlichen, mit einer Grammatik nicht beschrieben werden kann, dann bedeutet das, daß die Grammatik zu schwach ist und so modifiziert werden muß, daß sie den Phänomenen Rechnung trägt.
Schon die Einheit des Satzes, die Herr S., und mit ihm ein Heer von Sprachpflegern, die den Untergang des Abendlandes prophezeien, als Grundeinheit und sprachliches minimum morale beschwört, ist vom Standpunkt gesprochener Sprache aus hochproblematisch, wenn nicht sogar unsinnig. Der Satz ist ein Ergebnis, ein Konstrukt der Schriftlichkeit. Er ist ein Postulat, eine stilistische Norm – im mündlichen Ausdruck aber kein Normalfall. Insofern ist eine Grammatik von Sätzen eine Grammatik, die ohnehin nur für den Teilausschnitt geschriebener Sprache und für wenige Bereiche der gesprochenen Sprache Beschreibungsmacht hat. Und selbst in Schriftsprache bleibt der Satz als Analyseeinheit problematisch, da seine Definition recht unklar ist. Zu sagen, was die Jugendlichen da fabrizieren, sei keine „echte“ Sprache, oder kennzeichne einen Verfall, einen Niedergang, weil es mit der Grammatik (was auch immer für eine) nicht beschrieben werden könne, ist gerade so, als behaupte man, Quantenphänomene seien gar keine echten physikalischen Erscheinungen, weil sie nicht durch die Newtonschen Mechanik beschreibbar seien.
Die Elektronen wird das kaum beeindrucken.
Die Jugendlichen auch nicht.

Köln, Agnesviertel

Das sind ja nun Orte, die ich selten aufsuche, daher waltet an ihnen immer noch emsig die Erinnerung. Wie lang es auch her sein mag. Nichtabgeschlossenes wirkt viel in mir. Die Jahre schieben sich dazwischen, aber es ist als fließe das Alte, das Gelebte, Stunden des Glücks und des Unglücks, jedenfalls aber des Reichtums, widerströmig zurück. Nichts ist so fern, daß es blaß würde. Im Gegenteil ist es so lebendig, daß es mich schreckt, wenn ich mir die lange Zeit vergegenwärtige. Wie lange bin ich schon hier in dieser Stadt, beispielsweise, und die Orte, wieviel haben sie schon gesehen, und sind immer noch die alten orte und ich immer noch da.

an C., im juli 2005

Während ich Deinen Brief lese, oder dies hier schreibe, muß ich an etwas denken, das nunmehr völlig bedeutungslos ist; aber nun hast Du im Grunde Dir eine Welt gebaut, die ich immer hatte fliehen wollen. MannKindHaus, ohne das geringschätzen zu wollen. Bist Du glücklich? Wie fühlst Du Dich? Von außen betrachtet sieht es wie ein Ankommen aus, ein Erreichthaben, eine Verwirklichung von lange Erträumtem, obwohl das wahrscheinlich nie so ist, und immer weitere Dinge erstrebenswert und erträumbar scheinen und scheinen werden. Aber es interessiert mich, wie Du das siehst. Auch, weil wir einmal einen gemeinsamen Weg für möglich gehalten haben, und mein eigener Weg nun äußerlich wie innerlich so gänzlich verschieden ist von Deinem.
Und ich denke an das, was ich einen alternativen Lebensentwurf habe nennen wollen. Alternativer Lebensentwurf (alternativ aber wozu?), der vielleicht gar kein Entwurf ist, sondern eine Not, die ich mir, umgedeutet als eigene Entscheidung, zur Lebensführung auspräge. Hatte ich eine Wahl? Gab es jemals den Ort und die Zeit, wo ich mich entschieden hätte, im Großen? Rückblickend stellt sich der Ort, an dem ich mich jetzt befinde, als Ergebnis einer Kette von unscheinbaren Entscheidungen dar, deren jede einzelne im Grunde unwesentlich war.

kall/gemünd/mechernich

kurz nach der wegekreuzung mit der hütte am schneeweiß wölbt sich zur rechten baumfreie heide, und inmitten gesträuchs, strähnen vergilbten grases, gebleichter holzstümpfe, flächen gefrorener tümpel, schiebt sich backstein aus dem boden, von grassoden wie von filzigen haarflechten bedeckt, von grüngrauer erde umflankt, als sei der gemauerte stein wie ein pilz eine wurzel ein troll aus dem grund emporgewachsen. eine tür starrt verschlossen und rostig halb zum weg. eingekeilt zwischen erde, gras, geäst und himmel sind die sturen linien des quaders dem ort fremd. fast ein geräusch, ein gefährliches summen: aber alles ist still, lauscht man hin. nur eine säge, andererseits, eingraben in die baumesstille; hinter dem hügel spannt sich die siedlungsgefleckte weite.
von dort ist es noch eine halbe stunde bis gemünd.

aufmerksamkeit

Irgendwo hier im gebäude klappert es, wie wenn ein blech, eine lüftungsklappe, eine blende herumschlägt. hotmail bietet mir einen intelligenztest an, dessen erste aufgabe darin besteht, die tokens des buchstaben „f“ in einem kleinen text zu zählen. laut ergebnis bin ich ein genie, aber ich kannte den test schon. unter den biographien der woche sind vier angeblich berühmte menschen (von zehn), von denen ich noch nie etwas gehört habe, nicht einmal den namen: Lance Armstrong (schon mal gehört), Osama bin Laden (weiß, wer das ist), Jan Ullrich (schon mal gehört), David Beckham (?), John Travolta (schon mal gehört), Christine Licci (??), Daniel Radcliffe (???), Charles Augustus Lindbergh (jau!), Ronaldinho (??!??), Thomas Gottschalk (ach ja). außerdem ist eine person namens Kylie Minogue (??????), die ich ebenso wenig kenne wie Ronaldinho (??!??), in ein anderes Krankenhaus verlegt worden. jemand schlägt mir vor, ich solle meine freunde neidisch machen, indem ich ihnen ein photo von mir ganz entspannt in einem liegestuhl sitzend und einem „flirt an der hand“ präsentiere, ein anderer möchte unbedingt, daß ich abnehme, und die huygenssonde könnte vielleicht leben auf dem titan gefunden haben. ich putze meine brille und sehe aus dem fenster.
Der horizont umschließt die stadt mit hartem wolkengriff. regen zieht dünn und leise herab, leute ducken sich unter regenschirme, reifen rauschen. nässe läuft dunkel über plakatwände, läßt strände, flugzeuge, parfumflakons, mobiltelephone, wellnesshotelanlagen (???!!?) aufquellen. aufmerksamkeit ist ein seltsamer vorgang. wenn ihre freunde sie jetzt so sehen könnten. das auswählen wird immer schwieriger. unsere instinkte sind nicht auf ignorieren programmiert, das macht die sache im falle unerwünschter information, die gleichwohl alle scheinattribute hochwichtiger information an sich trägt, lästig. andererseits wäre unser gehirn, wollte es allem die gleiche aufmerksamkeit zollen, völlig überfordert. also ist auch das vergessen, wegsehen, ignorieren programmiert. die frage ist, worauf man sich konzentrieren will, und unter welchen umständen es gelingt. Da gehe ich tag für tag an einer bestimmten glastür vorbei. an dieser glastür klebt eine idiotische mobilfunkwerbung mit einem völlig albernen text, so albern, daß ich mir vornehme, diesen text nicht mehr zu beachten. nehme mir vor, diesen text abzustrafen mit mißachtung.
es gelingt aber nicht. jedesmal aufs neue bleibe ich dran kleben, und merke es erst, wenn ich schon dabei bin, den text zu registrieren. ab jetzt gibt es kein bafög mehr. es sei denn, sie telephonieren gern. lassen sie die pfunde purzeln. nein, ich will keine pfunde purzeln lassen, und ich will auch nicht teuer dafür bezahlen, daß ich gratis telephonieren darf. ich will nicht einmal diese aufforderung bewußt zur kenntnis nehmen. aber wie kann ich das? die schwierigkeit besteht wohl darin, einen reflex zu unterdrücken. reflexe sind unmittelbar, sie setzen kein bewußtsein voraus, sie sind von einem willen unabhängig. zeigt mir jemand eine überdimensionale nackte weibliche brust – ich bin nicht der, dessen instinkte darauf nicht reagieren (dem himmel sei dank). einmal aus dem augenwinkel erhascht, und schon hast du hingeschaut. scheinattribute hochwichtiger information. das geht ohne jede tätigkeit der großhirnrinde, dazu reicht derjenige teil unseres nervensystems, den wir mit den reptilien (1) gemeinsam haben. schlimmer noch, die großhirnrinde kommt bei diesem vorgang erst gar nicht zum zuge. die großhirnrinde reflektiert das geschehen höchstens aus der retrospektive und schreibt dann einen weblogeintrag darüber. dann ist es aber schon zu spät, und man hat den artikel, der mit den brüsten beworben wird (wahrscheinlich ein auto, oder ein reisebureau oder eine versicherung, es gibt ja so vieles, was man mit einer weiblichen brust assoziiert) schon abgespeichert.
dennoch lassen sich reflexe beeinflussen, lassen sich unterdrücken oder konditionieren. doch was, wenn der reflexauslösende reiz jeweils ein anderer ist? und möchte ich wirklich meinen brüstehinguckreflex in einen brüstewegguckreflex umkonditionieren?
eine andere möglichkeit wäre natürlich, den kanal, auf dem die aufmerksamkeitsforderung zu uns gelangt, zu meiden: keine zeitung, kein fernsehen, kein kino, kein büdchen, radio auch nur bestimmte sender, internet? um himmels willen. also verzicht auf alles, was man heute so schön „die medien“ nennt. aber das reicht nicht.
denn ganz zu schweigen davon, daß ich ja auch von bestimmten infomrationen abhängig bin: die aufmerksamkeitsforderungen werden überdies noch überall gestellt, nicht nur in bestimmten, umgrenzten und daher vermeidbaren bereichen, sie sind ubiquitär. straßen, busse, bahnen, öffentliche gebäude, plätze, parkanlagen, ja, häuserwände, ja sogar die luft ist potentieller aufmerksamkeitsforderungsraum. brüste prangen auf zeppelinen, prickelnder bierschaum ergießt sich von betonwüsten herab, ein sinnlicher mund leckt kondenswassergetrübtes speiseeis vom straßenbahnrumpf. Abgesehen davon, daß auch auf unverdächtigen kanälen plötzliche, ungesuchte information sich anheischig macht, unsere aufmerksamkeit einzufordern. man kann ja nicht einmal ein taschenbuch zur hand nehmen, ohne hinweise auf weitere publikationen des verlags registrieren zu müssen. man kann nicht einmal eine fertigpizzapackung aufreißen, ohne mit superlativen und imperativen bedrängt zu werden (versuchen sie doch auch mal unsere köstliche …). ja, noch schlimmer: manchmal wird auch das bedürfnis nach echter information heimtückisch ausgenutzt, indem beispielsweise eine nachrichtenmeldung im internet beim anklicken zunächst auf eine weitere werbeseite mit leicht variiertem angebot führt, ehe nach nochmaligem anklicken der gewünschte artikel erscheint. oder suchmaschinen blenden perfiderweise passend zum suchbegriff werbeanzeigen ein.
wäre das werben, das buhlen um aufmerksamkeit, auf vorhersehbare kanäle beschränkt, wäre es nutzlos. werben funktioniert durch die beständige unerwartete bestürmung unserer sinne. unsere aufmerksamkeit muß im handstreich genommen werden. es darf dem betrachten keine entscheidungsfindung seitens des betrachters vorausgehen. denn wer würde eigens eine entscheidung fällen, um ein werbeplakat betrachten zu dürfen?
ich nehme mir vor, wegzusehen, mehr noch, als ich das wohl schon lange gewohnt bin; manchmal habe ich sogar erfolg: ich habe es tatsächlich geschafft, nicht mitzubekommen, wer dieser Ronaldinho ist. oder sollte man eines tages mit mobiltelephonen photographieren können – es dränge diese neuigkeit mit jahrelanger verspätung zu mir durch.

(1) In streng kladistischer formulierung müßte ich natürlich so etwas wie non-avian, non-mammalian amniote“ sagen, aber ich denke mal, die leser und leserinnen wissen, welche lebewesen ich meine.

ich komme allmählich dahinter, trage mir den berg an unklarem und nebelhaftem ab, um dahin vorzudringen, wo klein und hart und tief eingebettet in wirres gefühlsgewebe der schmerzenskristall liegt. ihn freizulegen. ihn herauszupräparieren. dann zu sehen, was daraus folgt oder wie sich weitermachen läßt. gestern nacht auseinandersetzung und ringen mit meinem tagebuch und der sprache und mir selbst.
mir sind zweieinhalb jahre abhanden gekommen. die fehlen nun. die sind nicht mehr mein. und jeder neue tag, jede neue stunde fängt mir völlig bedeutungslos aus einem namenlosen nichts heraus an. die zeit wurzelt nicht. ich bin zeitwurzellos. meine lebenszeit kommt nirgendwoher, sie ist plötzlich da, tritt auf, einfach so, verfügbar, transparent, blutleer, zu allem befähigt und zu nichts fähig. sie hat keine geschichte und keine herkunft und überläßt mich einer öden freiheit, die, statt mich zum handeln zu bewegen, mich bewegungsunfähig macht.

arztbesuch

am freitag doch noch zu kreuze und zur ärztin gekrochen; die mir, nach einem flüchtigen blick ins ohr, wozu ich sie gar nicht ermutigt hatte, erklärte, sie wolle mir mal die ohren durchspülen, sonst würde ich nichts mehr hören, wenn ich das nächste mal baden ginge.
wie bitte?
unverschämtheit – wenn ich dusche, dann richte ich den strahl immer direkt in meinen prachtvollen gehörgang und spüle gut durch, aber taub werde ich davon selten. eigentlich nie. und vom schwimmengehen auch nicht. oder wollte sie damit von hinten durch die brust ins auge andeuten, ich hätte wohl schon lange nicht mehr gebadet? weil es andernfalls ja nicht sein könne, daß ich überhaupt noch höre? unverschämt. außerdem war ich ja gar nicht wegen meiner ohren da, denen geht es, wie gesagt prima, und hören kann ich auch, danke schön!, sondern wegen meiner entzündeten kiefernhöhlen. wie es in meinen ohren aussieht, geht füreinmal niemanden etwas an.
und wie das sonst so ist mit ärzten: du gehst hin, sagst, du hast bauchweh, sie fühlen an dir rum, machen sich ein paar notizen, stellen ein paar fragen, setzen eine vorwurfsvolle miene auf und sagen dir dann auf den kopf zu, daß du bauchweh hast. bravo. so auch jetzt wieder.
„was führt sie zu mir?“
„meine kiefernhöhlen sind entzündet“
„schmerzen?“
„ja“
„beim vornüberbeugen?“
„besonders“
„pochen?“
„auch“
„dann mach ich mal ein ultraschall“
(macht ein ultraschall)
(mit vorwurfvollem gesichtsausdruck) „herr öhlbär, ihre kiefernhöhlen sind ja entzündet!“.

ach nee.
ich meine, also ehrlich.

fast schon …

viertel vor drei termin.

medizin fängt an zu wirken.

die myrte still und scharf der kampher weht.

lüftung klappert.

himmel ist immernochgrau.

kaffe brodelt in den venen.

doppelpunkt blinkt tapfer gegen die zeit.

fast schon ein vormittag gewesen

während draußen der schnee schmilzt und die papiermatschbraunen straßen aufblicken zum blaßblaugepusteten neujahrshimmel, liegen wir in den decken und zerwühlen die wärme mit füßen und ellbögen.
draußen schweres getropf. ab und an kracht ein böller. die sonne glänzt auf der kiefer im garten. der kühlschrank summt. wir schweigen und atmen.
„du bist wie …“ will ich sagen, doch sie schließt mir mit einem kuß den mund und das wort (und den gedanken auch).

du bist wie warmes karamell.