L’Inverno

Auf dem Münsterplatz läßt mich der plötzlich auffedernde Ton einer Klarinette innehalten. Es sind drei Musikanten, Typ „Russische Musikstudenten aus St. Petersburg“, und wie alle dieses Schlages sind es Profis, die wissen, was sie tun. Ich suche mir ein Plätzchen abseits und höre zu. Eine Tuba, ein Akkordeon, eine Klarinette. Der Platz bleibt, bis auf ein zwei verstreute Enthusiasten, menschenleer.

Sie spielen Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, den Winter, in einem merkwürdigen, aber nach anfänglicher Verwirrung vergnüglichen Arrangement, in dem sich Akkordeon und Klarinette die Tutti- und die Solopassagen der Violine voneinander übernehmend einander überkreuzend teilen. Das verfremdet und verzaubert, und taucht die barocke Sprache in ein ganz seltsames Licht.

Lässig spielen sie, trotz der Kälte fliegen die Finger über Klappen und Tasten. Der Klarinettist hebt, unter seiner strengen Mütze kaum zu sehen, ab und an vergnügt die Brauen, während der Akkordeonspieler recht finster und in sich hinein gewandt aussieht, als spiele er ganz allein; der Tubist lehnt sich gar, ein Bein bequem um das andere gewickelt, an einen Laternenpfahl. Schön hingetupft breiten sich die wuchtigen und doch leicht gewippten, schwingenden Klangfundamente der Tuba aus, das Akkordeon vermittelt, während die Klarinette glasklar die winterkalte Luft durchklirrt. So muß Vivaldi gespielt werden, denke ich, und diese denkwürdige, jede historische Aufführungspraxisideologie frech verlachende Darbietung macht mir plötzlich mehr Freude, als so manche vibratolose, darmsaitenverkratzte Akademikereinspielung. Da läßt man aufwallen, und versiegen, bricht aus, nimmt zurück, trampelt stolz herum, um schon im nächsten Augenblick wieder auf Zehenspitzen einher zu trippeln. Die Läufe prasseln und rauschen. Die Dissonanzen klirren frostig. Die Tuttipassagen knarren und rumpeln. Die da spielen nicht einfach Vivaldi – sie führen ihn auf.

0 Gedanken zu „L’Inverno

  1. Ich bin auch ständig in Versuchung, mich dafür zu entschuldigen: Ich möchte niemanden im Schlafe stören, aber so mache ich das bei »Neuentdeckungen«.
    Und jetzt lese ich wieder still.

    1. Oh, nein, so wollte ich das auf gar keinen Fall verstanden wissen. Ich finde ja die vorgegebene chronologische Reihenfolge beim Bloggen unbefriedigend und freue mich sehr, wenn jemand unbeirrt in den älteren Einträgen stöbert. Das wenigste auf diesen Seiten ist ephemerem Tagesgeschehen gewidmet. Rückmeldungen sind immer gern gesehen — also bremsen Sie sich nicht, wenn Sie das Bedürfnis haben, zu kommentieren.

  2. Ah. Gut, gut.

    Ich empfinde das beim Bloggen anders — Chronologie wird angenehm zweitrangig, beim Erzählen wie beim Nachlesen. Ich nutze ausgiebig Stichworte, Links und Kategorien, um in anderer Leuts Gedankenwelt herumzukommen. Andererseits nörgelt dabei meine Erziehung, daß anderer Leuts Gedanken deren Sache seien. Und wieder andererseits stehen sie ja zum Gelesenwerden im Netz …

    Sie sehen, alles nicht so einfach. Aber das wird schon; ich bin recht zuversichtlich.

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