Tag: 11. November 2004
Über Kirchturm und rauchwürgende Kamine hin gellt der Dreiecksschrei der Gänse. Asphaltgeruch mit Nässe und Pferdemist klebt in der Nase, die Stirn schmerzt, die Autos rollen wie wild, als hätte Ziel und Fahrt und Weg irgendeine Bedeutung, die Züge quietschen und halten und halten. Bäume hängen am Himmel fest, und ich bin so müde bis ins Innerste hinein. Zermüdet, zermürbt, zerfühlt. Zerfasert und zerdünnt bis an die Grenze einer Leere, die so dichtgepackt ist, daß sie keinerlei Empfindung außer dem Wahrnehmen ihrer selbst mehr aufnehmen kann. Ich möchte mir eine Decke aus grauschweren Wolken über den Kopf ziehen und schlafen, schlafen, schlafen.
Gestern nacht plötzlich, in jenen gefährlichen Stunden, da die Erinnerungen an uns wallen wie traurige Vogelschwingen, wie Rauch, der endlos den Kaminen entquillt, vermisse ich meine ehemalige Mitbewohnerin, Carmen, die vor drei Monaten aus unserer WG ausgezogen ist. Wir haben kaum je ein intensives Gespräch geführt, ja, wir sind uns kaum je wirklich über den Weg gelaufen. Sie war tags über nicht da, ich nachts meistens nicht. Sie aß gerne auf ihrem Zimmer, fernsehenschauend, ich in der Küche. Ein Hallo hier oder da; ein bißchen Lästern über die Jungs, die im Hof ihre Mofas frisieren. Ein Lächeln hier, ein Grinsen da, da war alles. Und plötzlich vermisse ich sie wie verrückt. Ist es diese schlimme Stunde, vier Uhr morgens, wenn man glücklich von der Toilette zurück ist und die warme Bettwatte einen wieder umfängt, diese Stunde, da plötzlich Altes, Vergessenes, Verdrängtes, Übersehenes und Vergangenes wieder hochkommt wie zäher, unverdauter Brei? Ist es die plötzliche blitzwache ‚Erkenntnis, daß uns nichts, aber gar nichts bleibt auf unserem Weg, und wir alles verlieren werden, früher oder später? Ist es das Gefühl der Hilflosigkeit, und daß uns alles, was wir an Leben schaffen und uns als Gewinn anrechnen, unaufhaltsam, von Minute zu Minute entgleitet? Wie oft schon lag ich plötzlich wach, schlaflos vor plötzlichem Weh.
Carmen hatte zwei Mäuse, die nachts in ihrem Riesenterrarium herumfegten und nagten und wühlten. Wenn ich wandern war, brachte ich ihnen immer etwas zum Knabbern mit, Fichtenzapfen, ein Stück Borke, Hainbuchenzweige. Es dauerte nie länger als ein zwei Tage, bis alles zu Sägemehl verarbeitet war. Daran dachte ich jetzt, oder wie wir zu dritt kurz vor ihrem Auszug die Küche renoviert haben, Claas, sie und ich. Wenige Tage später sagte sie uns, sie wolle mit ihrem Freund zusammenziehen.
Oder mein Mitbewohner Jörn, mit dem ich über drei Jahre zusammenwohnte, in einer anderen Zeit, damals, in Plittersdorf. Jörn, dem ich mein Herz über eine gerade vollzogene Trennung ausschüttete, kaum daß wir einen Monat zusammenwohnten. Jörn, der mir alles über seine indonesische Freundin erzählte. Wir teilten das kleine Appartement vom Winter 93 bis zum Sommer 97. Eines Abends füllten wir billige Weingläser von IKEA mit Wasser und bauten eine kleine Glasorgel auf; dann probierten wir solange am Wasserstand herum, bis es uns gelang, die Titelmelodie von Once upon a time in the west zu intonieren. Wir saßen bis zwei Uhr morgens in der Küche, berauscht mehr von unserem Spiel als vom Chianti, glücklich wie kleine Jungs.
Was ist davon geblieben?
Nichts.
Solcherart sind die Dinge, die plötzlich da sind, um vier Uhr morgens, zwischen Schlaf und Schlaf, so nah, als wäre man noch mittendrin, und so schmerzvoll weit weg, daß es einem eng wird in der Brust. Wo soll man das alles nur hintun? So vieles geschieht, ist geschehen, wird geschehen. Zuviel, um alles in all seinen Tragweiten, Facetten Farben und Gerüchen je so durchdenken und erinnern zu können, daß man sagen kann, es ist gut. Dazu ist es zuviel, ist es zu groß. Wir schlucken es nicht. Wir lösen es nicht. Wir sind nie mehr frei. Wir schieben nur fort. Und unter dem Schleier hervor kriecht es dann nachts und macht uns weh vor Vergeblichkeit und Vorbei, vier Uhr morgens, zwischen Schlaf und Schlaf.