Lange habe ich geglaubt, er vermöchte mir nichts mehr zu geben. Keinen Trost, keine Verblüffung, kein Entzücken, kein Schauern. Vor Jahren war es, als ich begann, ihn immer seltener zu hören. Ich verlor ihn, nicht nur aus dem Ohr, sondern auch aus dem Blick, aus den Gedanken, aus der Nähe, die ich bei ihm immer empfunden hatte. Immer seltener ging er neben mir, oder war mir Gefährte einsamer Abende nahe der Verzweiflung, die ich oft mit seiner Musik unter geöffnetem Fenster verbracht hatte, das Zimmer dunkel bis auf die Anzeige des CD-Spielers, die die Beleuchtung im Raum von Sekunde zu Sekunde änderte. Er verstummte langsam, jahrelang, bis seine Musik fast ganz schwieg. Ich merkte es nicht sogleich. Eigentlich erst Jahre später. Gelesen hatte ich viel über ihn. Jetzt suchte ich nicht mehr nach Büchern über ihn. Zwar war sein Antlitz oft zu sehen, aber es zog mich nicht mehr an. Ich sah Ausgaben seiner Werke, aber nichts reizte zum Kauf. Gehört hatte ich ohnehin schon alles.
Jetzt kam mir vielleicht noch manchmal eine Phrase, ein Akkord, eine seiner herrlichen Ostinato-Bläserfiguren in den Sinn, sein dämonenhaftes Blech, seine kreischenden Violinschreie, eine seiner verrückten Modulationen („mein C-Dur muß klingen, als sei es vom Himmel gefallen“); aber ich fühlte die Wärme nicht mehr, die einst mich beim Gedanken und Erinnern an seine Kunst durchströmt hatte. Vielleicht hatte sie nur zu bestimmten Jahren meines Lebens Zugang, nur in einem bestimmten Alter ihre Wirkung und die Gabe, mich zu erschüttern, und mich mir selbst, leicht verschoben, wiederzuschenken. Selbst noch vor einigen Monaten, als es eine Radiosendung gab über ihn und die Rekonstruktion seines letzten, unvollendet gebliebenen Werks: Da war wohl kurze Verzaubrung, gefolgt vom Gang in die Musikbücherei und kurzer Beschäftigung mit diesem Werk. Doch blieb der erneute Zauber, der anhaltende, von früher bekannte, aus.
Gestern aber glaube ich, habe ich ihn wiedergefunden. Es war sein „Lied von der Erde“, das mir geradeso wie früher direkt ins Herz ging, und doch so geheim, daß die Wirkung sich langsam langsam entfaltet und für dieses Entfalten Stunden, Tage braucht. Es ist kein Rausch; eher so etwas wie Liebe. Die tiefe Freude darüber, daß es diese wunderschöne Musik gibt und sie bei mir ist. Sie war immer etwas Vertrauliches, von dem ich glauben konnte, daß sie mir persönlich etwas sagen wollte, daß sie mich anging. Daher habe ich mich dem Schöpfer dieser Musik, seiner Zerrissenheit, seinem Leiden, seinem Schuldigsein, seiner wahnsinnigen Lebensfreude, seiner ebenso wahnsinnigen Lebensverzweiflung, seiner tiefen Liebe zu einer Frau, seinem Ringen um Ausdruck und Bewältigung, schließlich seiner Erschöpfung, immer nahe gefühlt, immer verbunden, ja, immer ähnlich und verwandt gefühlt: Gustav Mahler.