16.

Einsam muß er, der neue Mensch, sich unter seinen Mitmenschen vorgekommen sein, einsam und in kühlen Hauch geschlungen, einsam wie auf dem Gipfel des Mont Ventoux, den er als erster erstieg: Alleine in hitzelflirrenden Steinhängen. Allein mit der neuen Sehnsucht in seiner Brust, die er mit keinem Menschen seiner Zeit zu teilen vermocht hatte und die vielleicht in jener Wanderung ihren bildhaftesten Ausdruck findet. Wir können kaum ermessen, was es bedeutet haben mußte, in jener Zeit so anders zu fühlen und damit so einzig und getrennt von allem zu sein. Als erster nach Jahrhunderten wagte er es, seine Liebe zum Mittelpunkt und Maßstab der Welt zu erklären. Seine Liebe ist alles. Die Welt wird ihm wirklich durch seine Liebe, und deutbar durch das Eigene, durch die Sehnsucht seines vereinzelten Selbst. Daß sich auch die Welt unter diesem Blick verwandeln muß, daß sie diesem liebenden Auge gänzlich neu erscheinen muß, ja, daß sich dieses Auge plötzlich selbst beobachtet und verstehen will, ist nur zu begreiflich. Damals war es unerhört. Und wir staunen über diesen plötzlichen Funken in seiner Brust, den neuen Lebensmut, der den Gestank der Gassen, das Elend von Pest und Aussatz, die Erniedrigung von Schmerz und Schmutz zu überwinden gewillt ist, und das klare Auge, das auf einmal emporblicken will zu den Hängen, die damals vielleicht noch pinienbestanden, duftend und vom Lärm der Zikaden erfüllt waren, das sich hinwendet zur harten, steinernen, sonnendurchglühten Welt und sie zum ersten Mal als etwas empfindet, das verstanden und durchwandert werden will, ohne Gleichnis, ohne Jammertal, ohne Prüfstein zu sein. Und wir bewundern das liebende Herz, das sagte: Laß uns dort hinaufgehen. Laß uns unter Pinien wandern, in Mühsal steigen, sehen und sehend dichten.
Heute jährt sich sein Geburtstag zum 700sten Mal.

S’amor non è, che dunque è quel ch’io sento?
Ma s’egli è amor, perdio, che cosa et quale?
Se bona, onde l’effecto aspro mortale?
Se ria, onde sí dolce ogni tormento?

S’a mia voglia ardo, onde ‘l pianto e lamento?
S’a mal mio grado, il lamentar che vale?
O viva morte, o dilectoso male,
come puoi tanto in me, s’io no ‘l consento?

Et s’io ‘l consento, a gran torto mi doglio.
Fra sí contrari vènti in frale barca
mi trovo in alto mar senza governo,

sí lieve di saver, d’error sí carca
ch’i’ medesmo non so quel ch’io mi voglio,
et tremo a mezza state, ardendo il verno.

Nachdichtung von Martin Opitz

ISt Liebe lauter nichts / wie daß sie mich entzündet?
Ist sie dann gleichwol was / wem ist ihr Thun bewust?
Ist sie auch gut vnd recht / wie bringt sie böse Lust?
Ist sie nicht gut / wie daß man Frewd’ auß jhr empfindet?

Lieb’ ich ohn allen Zwang / wie kan ich schmertzen tragen?
Muß ich es thun / was hilfft’s daß ich solch Trawren führ’?
Heb’ ich es vngern an / wer dann befihlt es mir?
Thue ich es aber gern’/ vmb was hab’ ich zu klagen?

Ich wancke wie das Graß so von den kühlen Winden
Vmb Vesperzeit bald hin geneiget wird / bald her:
Ich walle wie ein Schiff das durch das wilde Meer

Von Wellen vmbgejagt nicht kan zu Rande finden.
Ich weiß nicht was ich wil / ich wil nicht was ich weiß:
Im Sommer ist mir kalt / im Winter ist mir heiß.

Nachdichtung von Friedrich Wilhelm Riemer (1826)

Ist’s Liebe nicht, was dann ist dieses Meinen?
Ist’s Liebe nicht, wie nenn’ ich sie zumal?
Nenn’ ich sie gut, wie schafft sie herbe Qual?
Wenn böse, wie versüßt sie alle Peinen?

Lieb’ ich freywillig, woher Klag’ und Weinen?
Wenn wider Willen, frommt dann Thränenzahl?
Lebend’ger Tod! erquickungsreiche Qual!
Wie hast Du Macht an mir, die ich verneine?

Und hast Du sie, leid’ ich sie mir zum Schaden:
In schwankem Kahn, im Widerspiel der Winde,
Auf offnem Meere treib’ ich ohne Steuer;

An Wissen leicht, an Irrthum schwer beladen,
Bin ich nicht so wie ich mich gern empfinde,
Und fühl’ in Hitze Frost, in Kälte Feuer.

Nachdichtung von Karl Kekule (1844):

Wenn Liebe nicht, was ist es, was ich fühle?
Und ist es Liebe, was, um Gott, ist diese?
Wenn gut, wie kommt’s, daß tödtlich hier sie wühle?
Wenn bös, daß Wonne jedem Schmerz entsprieße?

Wenn ich mit Willen glüh’, was heisch’ ich Kühle?
Wenn gegen, hilft mir’s, daß die Thräne fließe?
Lebend’ger Tod, und Luft bei Flammenschwüle,
Wir zwingt ihr mich, wenn ich’s nicht selbst erkiese?

Erkies’ ich’s denn; – so fleuch, rechtlose Klage! –
So treib ich schwankend hin auf schwachem Kahne,
Und steuerlos, vom hohen Meer umsprühet;

So leicht an Wissen und so schwer an Wahne,
Daß selber ich nicht weiß, wonach ich jage;
Im Sommer eisig, Winters heiß durchglühet

15. An Claudia

Heute Morgen die Donnerschläge eines Gewitters, die sich polternd in den halbfertigen Schlaf drücken … Beunruhigungen, Sorgen. Es ist auswegslos. Ich komme an dir nicht vorbei, Claudia. Und doch kann ich nicht zu dir kommen, nicht mit dir sein. Es wäre grotesk. Von allen anderen Schwierigkeiten ganz zu schweigen.

Die Schwingen der Bäume hängen vollgesogen von Regen über den Weg. In den Pfützen stehen zitternd die Umrisse der Wagen und Baumstämme, und die Welt fühlt sich an, als sei sie schon viel später als sie wirklich ist. Der Sommer ist schon vorbei. Unsere Berührungspunkte jede Woche sind vergangen, bevor sie vergangen sind. Traurigkeit macht die Bäume schwer, und bald wird alles, was ich seit April oder Mai erlebe, wie ein immer fernerer Spiegel sein, in dem sich alles immer kleiner und kleiner spiegelt.